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Neuer General-Anzeiger: für Heidelberg und Umgegend ; (Bürger-Zeitung) (2) — 1894

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Nr. 61 - Nr. 70 (13. März - 24. März)
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Nummer 64. H. Jahrgang.

Neuer

Freitag, 16. März 1894.



General

nmger

für Heidelberg und

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belesenstes Blntt in Stndt n. A-nt Heidelderg nnd Llnrgegend. GvstzteV Eusslg snv Inserate.

WM" Telephon-Anschluß Nr. 102. -WU

Tas Cnde der Revolution in
Brasilien.
Wie verschiedene Meldungen besagten, ist der
Admiral da Gama, Führer der ausständischen
Notte, nachdem er seine Kapitulation angeboten,
Mohen, es besteht somit kein Zweisel mehr dar-
Aöer, daß in Brasilien oder wenigstens in der
Hauptstadt Rio die Revolution zu Ende ist.
Bekanntlich hat sich am 6. Sept, vorigen
Wahres Admiral de Mello mit einer Anzahl
Kriegsschiffe erhoben, weil Peixoto angeblich die
Erfassung verletzt hatte, indem er einen von den
Kammern angenommenen Antrag, durch welche
^Ne Wiederwahl Peixoto unmöglich gemacht
Werden sollte, mit seinem Veto belegte. In Wirk-
stchkeit revoltierte die Flotte, weil sie sich gegen-
über der Armee zurückocsetzt sah. Anfangs glich
bkr Kampf eher einer Spielerei: es wurde viel
Munition verbraucht, allein die Kugeln verur-
sachten wenig Schaden. Auch der Handel wurde
h'cnig gestört, bis die Insurgenten an Munition
^ud Vorräthen Mangel zu leiden anfingen und
faln durch eine schärfere Beschießung die Bevöl-
kerung von Rio de Janeiro zur Unterwerfung zu
Mngen suchten. Gleichzeitig verlautete, daß die
Führer der Aufständischen sich für die Herstellung
ber Monarchie erklärt hätten. Diese Nachricht
^urde zwar bald als unbegründet bezeichnet. Die
Aachx mar auch zu gefährlich und ein Theil der
Führer der Aufständischen wollte von einer Wieder-
herstellung der Monarchie nichts wissen.
y Da erschien Ende November ein Manifest des
Admirals da Gama, welcher als Leiter der Ka-
Wenschule auf der Cobrasinsel sich fast drei
Monate neutral Verhalten hatte, in welchem er
Astier den heftigsten Beschuldigungen gegen die
Republik osten feinest Anschluß an die Revolution
Märte. Der eigentliche Urheber der Revolution,
^pmiral de Mello, forcierte wenige Tage daraus
dem Kriegsschiffe „Aquidaban" die Ausfahrt
dem Hafen von Rio und begab sich nach
^esterro, dem Hauptorte des Staates Santa
Katharina, wo sich eine provisorische Regierung
^bildet hatte, von der man aber wenig gehört
M der jedenfalls niemand in Brasilien gehorcht
Admiral da Gama übernahm den Ober-

Fsrtrvätzreird
werden von allen Postanstalten, Landbriefträgern,
unseren Agenten und Trägerinnen Abonnements
entgegengenommen.

befehl über die aufständische Flotte in der Bucht
von Rio und die Beschießung nahm einen ernsteren
Charakter an. Das Rio gegenüberliegende Nic-
theroy wurde fast vollständig zerstört und Rio
selbst erlitt vielfach Schaden. In England und
Frankreich sanden die Aufständischen viel Sym-
pathie und eine Zeit lang hatte es den Anschein,
als ob sie den Sieg erringen würden. In den
letzten Tagen des vorigen Jahres hieß es sogar,
daß Peixoto abgedankt habe, welche Nachricht auch
im Staatsdepartement in Washington eingetroffen
war, aber nicht geglaubt wurde. Für die Auf-
ständischen hing alles davon ab, ob die Insur-
genten im Süden, ans den Staaten Rio Grande
do Sul, Santa Catharina und Sao Paulo recht-
zeitig genug heranrücken könnten, um einen An-
griff gegen Rio de Janeiro von der Landseite zu
unternehmen, noch ehe den Aufständischen auf den
Schiffen Munition, Lebensmittel und Streitkräfte
ausgingen. Bei den riesigen Entfernungen und
schwierigen Verkehrsmitteln war es nicht wahr-
scheinlich, daß da Gama von dieser Seite Unter-
stützung erhalten werde. Dazu kam noch, daß die
Vereinigten Staaten von Amerika die monar-
chistischen Bestrebungen der Aufständischen mit
Mißtrauen beobachteten und deßhalb dem Marschall
Floriano Peixoto gestatteten, eine Anzahl Schiffe
in Newyork und anderen Häfen Nordamerikas
auszurüsten. Es hat lange gedauert, bis die-
selben kricgstüchtig waren und es ist heute noch
zweifelhaft, ob sie in einem ernstlichen Kampfe
mit der Kriegsflotte der Aufständischen, die aller-
dings durch den Ungang des „Javary" geschwächt
war, siegreich geblieben wäre. Ob hiermit nun
auch die Revolution im Süden zu Ende gehen
wird, ist sehr fraglich, denn dort haben die In-
surgenten in der letzten Zeit unzweifelhaft Er-
folge errungen. Der Schaden, welcher im Süden
durch den Bürgerkrieg verursacht worden, ist sehr
groß und auch die deutschen Kolonien haben viel-
fach gelitten. Wenn es dem Marschall Floriano
wirklich nur darauf angekommen ist, wie er be-
hauptet, die Verfassung und die Republik zu retten,
dann sollte er jetzt auch, den südstaatlichen In-
surgenten die Hand zum Frieden bieten.
Deutsches Reich.
Berlin, 15. März.
— Die Kaiserin Friedrich wird von
Schloßhof Friedrichhof bei Cronberg nach Athen
Weiterreisen. Mitte April wird die Kaiserin nach
Deutschland zurückkehren und sich zunächst nach
Koburg begeben, um an der Hochzeit des Groß-
herzogs Ernst Ludwigvon Hessenmit Prin-
zessin Viktoria Melita von Sachsen-Koburg-Gotha
am 19. April theilzunehmen. Den übrigen Theil des

Sommers wird die Kaiserin Friedrich voraussicht-
lich auf Schloß Friedrichshof verbringen.
— Das gestrige Essen beim Finanz-
minister Dr. Miquel nahm, wie uns noch
mitgetheilt wird, einen sehr anregenden Verlauf.
Der Kaiser war in sehr guter Stimmung und
unterhielt sich mit verschiedenen Gästen. Er hatte
mehrere Karten mitgebracht und entwickelte an der
Hand derselben seine Lieblingsidee eines Mittel-
land-Kanals im Gespräch mit dem Handelsminister
Frhrn. von Berlepsch und dem Abg. Frhrn. von
Hammerstein. Bei der Festtafel nahm der Kaiser
zwischen dem Reichskanzler Grasen Caprivi und
dem Handelsminister Frhrn. von Berlepsch Platz,
während dem Kaiser gegenüber Dr. Miquel mit
seinen beiden Kollegen Minister Thielen und von
Heyden saß. Nach dem Essen zog der Kaiser auch
den Frhrn. von Manteuffel in ein Gespräch und
wechselte freundliche Worte mit demselben. Der
Kaiser verließ nach 11 Uhr das gastliche Haus.
— Die „Tägliche Rundschau" knüpft an die
Meldung von der gestrigen Anwesenheit Sr.
Majestät des Kaisers auf dem Diner des Herrn
Finanzministers die weitere Mittheilung, daß „der
Finanzminister in letzter Zeit mehrfach sich mit
dem Grafen Herbert Bismarck über die
politische Lage berathen hat". Wir wollen an-
nehmen, daß es sich hierbei um nichts weiter als
um einen schlechten Scherz handelt. Der Herr
Finanzminister und der Reichstagsabgeordnete Graf
Bismarck mögen während der jüngsten gesellschaft-
lich sehr bewegten Wochen in fremden Häusern
einander begegnet sein, „Berathungen" über poli-
tische Lage bei Kaffee und Zigarre haben aber
schwerlich stattgefunden.
— Nächst dem Thronfolger von Rußland ist
bekanntlich der Kronprinz von Italien der
„verlobteste" Prinz der Gegenwart. Jetzt werden
in Rom wieder einmal Gerüchte von seiner bevor-
stehenden Verlobung kolportirt. Nach einem Herold-
telegramm wird in dortigen diplomatischen Kreisen
versichert, die Bemühungen, welche auf eine Heirath
des Prinzen von Neapel mit der Schwester
der deutschen Kaiserin hinzielten, seien auf
dem Punkte angekommen, von Erfolg gekrönt zu
werden. Der Hausminister Ratazzi soll bereits
nach Berlin gereist sein, um die Angelegenheit zum
Abschluß zu bringen.
— Das Gerücht, das heute durch die Wan-
delgänge des Reichstages lief, Herr von Bötticher
sei um seinen Abschied eingekommen und zwar aus
Anlaß der Vorgänge in der Budgetkommission bei
der Berathung über das Nationaldenkmal
für Kaiser Wilhelm I. wurde von ernsten
Beurtheilern ohne weiteres als unbegründet be-
zeichnet und selbst die Versicherung, es sei bereits

ein Nachfolger für den dauerbarsten unserer Hobe"
Funktionäre in dem Oberpräsidenten Nasse desig-
nirt, vermochte die Skepsis nicht zu vermindern.
Nur als Symptom, wie heikel und fruchtbar für
Verwickelungen aller Art die Angelegenheit des
Kaiser-Wilhelm-Denkmals nachgerade sich zu ge-
stalten droht, sei der Meldung überhaupt hier er-
wähnt. Im Ernst wird vor der Hand Niemand
an den Abgang des Herrn von Bötticher glauben;
die Gesetze der Adhäsion, die hier in Frage kommt,
sind bekannt und bewährt und haben schon hef-
tigeren Stürmen widerstanden.
— Der „Voss. Ztg." zufolge wurden im
Bundesrathe noch einige Gesetzentwürfe festgestellt,
die der Reichstag nach Ostern erledigen soll, dar-
unter die Novelle zum Reichsjustiz-Ver-
fassungsgesetz betreffs Einführung der Be-
rufung iw Strafverfahren und Entschädigung un-
schuldig Verurtheilter.
— Die Berliner Anarchisten behaupten, die
Polizei werde in nächster Zeit engergisch gegen die
Anarchisten vorgehen und den „Sozialist", das
Organ der Partei, verbieten. Für diesen Fall
seien Vorkehrungen getroffen, das Blatt im Aus-
lande Herstellen zu lassen. Die Flucht des Buch-
druckereibesitzers Werner soll durch die fraglichen
Maßnahmen beeinflußt worden sein.
Karlsruhe, 15. März. Die Kommission zur
Vorberathung der kirchenPolitischen Anträge
des Zentrums hat gestern den weiteren An-
trag des Zentrums auf Aufhebung des Verbotes
zur Abhaltung von Missionen mit 7 gegen 6
Stimmen angenommen, nachdem auf Antrag des
Abg. Dr. Rüdt der Zusatz ausgenommen worden
war, daß Missionen außerhalb von Kirchen unter
das Versammlungsgesetz von 1867 fallen.
Karlsruhe, 15. März. Es verdient, bemerkt
zu werden, daß sämmtliche Mitglieder der zweiten
Kammer, welche zugleich dem Reichstage angehören,
gegenwärtig in Berlin weilen, wo die überaus
wichtige Entscheidung über den deutsch-russischen
Handelsvertrag fällt. Die meisten Besitzer dieser
Doppelmandate hielten im Rondellsaale aus, bis
der Telegraph sie nach Berlin abrief, eine
Ausnahme machte nur der erste Vizepräsident v.
Buol. Derselbe war nur auf wenige Tage in
unserer zweiten Kammer erschienen, die ganze übrige
Zeit und heute noch weilt er im Reichstag, der
ihn bekanntlich zu seinem zweiten Vizepräsidenten
erwählt hat. Daß derselbe im Zentrum mit aller
Kraft für den russischen Handelsvertrag eingetreten,
dürfte übrigens unfern Lesern bereits bekannt sein.
Karlsruhe, 15. Mürz. Die Kommission für
das Beamtengesetz beschloß, die Ernennung
der Beamten durch landesherrliche Entschließungen

Wie vernünftig war das elegische Pfarrers-
töchterlein in den Jahren ihrer Ehe geworden!
Viktoria hätte es eigentlich anerkennen müssen,
daß sie sich ihre damaligen Vernunftpredigten so
gründlich zu Herzen genommen. Sie. dachte
mit einem geheimen Seufzer ihres künftigen Lebens
inmitten dieses ländlichen Kreises, dem sie durch
ihre höheren Ansprüche doch nun entwachsen war.
Und in dieser Athmosphäre hatte sie sich einst
vollkommen wohl und befriedigt gefunden.
Die Gutsnachbarn machten ihr bald Visite.
Die Herren kamen ihr mit ihrer schwerfälligen
Galanterie lächerlich vor, die Frauen mit ihrem
eng begrenzten Jnteressenkreis albern und unbe-
deutend. Die Athmosphäre, in der sie sich be-
wegten und ersichtlich wohl fühlten, war Viktoria
gänzlich fremd geworden. Man fühlte sich gründ-
lich unbehaglich mit einander, und gab den ver-
zweifelten Versuch bald auf, ferner zu verkehren.
Die arme kleine Frau Bremer war immer ab-
gehetzt von Arbeitslast, jedem höhere Gesichts-
punkte streifenden Unterhaltungsstoff unzugänglich
vor Uebermüdung.
Der schweigsame Haustyrann behandelte den
vornehmen Gast respektvoll, aber Viktoria fühlte,
er that sich Zwang an. Sie spürte mit weib-
lichem Scharfblick bald heraus, sie war dem ver-
schlossenen Mann, der nichts als seine Pflicht
und wieder seine Pflicht kannte, geradezu eine
Gene, wenn sie mit ihm aufs Feld ritt und über
den Stand desselben „klugschnacren" wollte. Frauen-
zimmer gehörten nach seiner ungalanten Abschätzung
in die Wirtschaft, aber nicht auf den Acker, und
endlich, o Staunen, entdeckte Viktoria in sich eine

. Roman von C. Zoetter-Lionheart.
(Fortsetzung.)
Die junge Frau des Pächters stürzte mithoch-
Ahem Kopf aus der Küche, wo sie dem Gast zu
. hren große Vorbereitungen getroffen. Sie war
i ihrem schwarzseidenen Sonntagsstaat schlecht
s^Zogen und schlecht frisiert. Die linkische Ver-
Mmtheit der jungen Frau Bremer nahm der
Pronin fast die eigene Behaglichkeit und machte
Nervös.
- , "Hoffentlich störe ich nicht mit meinem Ueber-
M?" fragte sie in Folge dessen.
-> Es kam ein Wortschwall von großer Ehre,
Müde und so weiter, dem man die Erzwungen-
eck anhörte.
A »Na, musizieren Sie noch fleißig, liebe Frau
Mn er ?" lenkte Viktoria ab mit einer Bewegung
Mi hochbeinigen Tafelinstrument hin, wäh-
sie sich den eleganten Reisemantel abnehmen ließ.
L. »Na, du meine Güte!" ereiferte sich mit zum
Estrmel erhobenen Augen und Händen die junge
'Nau. „Dazu hätt' einer von uns auch wohl
^rade noch Zeit! Solche Zeitvergeudung haben
M uns gottlob längst abgewöhnt, die Störung
Machen Frau Baronin nicht mehr zu fürchten.
° Kinder, das Jungvieh, die Milchwirthschaft,
geben von früh bis spät alle Hände voll zu
st",!*' ""d das da ist nur noch das reine Parade-
p, ck> das wir längst verkauft hätten, wenn nur
-„Ensch für den Klapperkasten 'was geben
- Wir sind nur noch fürs Praktische, das
erbringt, gnädige Frau!"

immer größere Abnahme des Interesses für alles,
was zur Landwirthschaft gehörte. Ihr Blick hatte
sich im Großstadtleben mit bedeutenden Menschen
doch geweitet. Wie sie sich äußerlich auch dagegen
gesträubt haben mochte, die Bedeutung des Einzel-
geschöpfs war ihr in der großen Allgemeinheit
doch geringwichtig geworden.
Nun verstand sie Pruß erst, der „sentimental"
darin aufging und mit Feuereifer Reformen
predigte, da sie noch im Anfang ihrer Ehe standen.
Später freilich hatte er verletzt geschwiegen und
sein Allerheiligstes, das ihr geißelnder Spott traf,
fest verschlossen gehalten.
An einem stillen Sonntag, da sie sich gar zu
überflüssig fühlte, als Frau Bremer mit sümmt-
lichen Kindern Erdbeeren zum Stadtverkauf pflückte
und der Pächter mit einem Gutsnachbarn beim
Seidel Bier auf dem Beischlag kannegießerte,
schlich sie sich heimlich an das Spinett und schlug
den Deckel auf.
Das altersschwache Instrument gab einen
brustkranken Ton von sich, als sie die Finger ver-
suchend auf die Tasten legte. Sie hatte als
Mädchen einen klangvollen, freilich unausgebildeten
Alt gehabt. Jetzt packte sie das unwiderstehliche
Gelüst, in dem unerträglichen Einerlei ihrer Tage
einmal einen Ton Musik zu hören. Sie griff
nach dem verstaubten Notenpult und zog ein ver-
gilbtes Heft aufs Gerathewohl hervor und begann
die Noten darauf leise abzysingen. Plötzlich ward
sie todtenblaß und warf das Blatt heftig von sich.
Ihr Auge hatte jetzt erst den Text zufällig ge-
streift : „Und wenn Du mit Engelszungen redetest

und hättest der Liebe nicht, wärest Du ein tönend
Erz und eine klingende Schelle!" Sie saß lange
da, wie erstarrt, die Hände vors Gesicht ge-
schlagen, und stierte in ihre öde, zertrümmerte
innere Welt.
Der nächste Tag brachte ihr eine Über-
raschung. Ihr Herz schlug stürmisch auf in selt-
sam bräutlicher Erregung. In ihr jetzt immer
blasses Gesicht stürzte eine Blutwelle von uner-
warteter Freude. Ihre zitternden Fingern um-
spannten einen dicken Brief von Pruß' Hand, der
ihr nachgewandert war.
Sie flüchtete sich mit dieser ersten langen Epistel
in dre Einsamkeit ihres eigenen Zimmers und
las, las ihn ein, zwei, drei Mal. Sie konnte
ihren eigenen Augen nicht trauen.
Dann schrie sie auf, als hätte sie eine Kugel
mitten ins Herz getroffen.
Pruß Brandenstein rollte ihr mnthig ihr
ganzes vergangenes Zusammenleben auf. Ganz
leidenschaftslos und unpersönlich schrieb er. Er
sprach ihr ehrlich von seinem seelischen Darben,
seiner geistigen Verarmung an ihrer Seite. Da
er leider zu der Ueberzeugung gekommen, daß sie
ihn sehr bald nicht mehr gern gehabt und sie sich
nicht verstanden, bot er ihr ihre Freiheit.
Viktoria saß am offenen Fenster und starrte
auf die wie Meereswogen steigenden und fallenden
reifen Kornfelder hin, aus denen Kornblumen
und Klatschrosen aufleuchteten, aber sie hatte
keinen bewußten Blick mehr für all den oft ge-
priesenen Gottessegen.
Sie war so grenzenlos arm — so bettelarm!
 
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