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Neuer General-Anzeiger: für Heidelberg und Umgegend ; (Bürger-Zeitung) (2) — 1894

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Nr. 141 - Nr. 150 (20. Juni - 30. Juni)
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zu einem Asyl wird. Berittene Patrouillen durch-
ziehen in gestrecktem Trabe die Straßen, um an
allen bedrohten Punkten Hilfe zu bringen. Die
Infanterie bewacht beide Zugänge der Straße, in
der der italienische Konsul wohnt.
* *
Lyon, 25. Juni. Die Minister reisten um
1 Nhr früh von Lyon ab. — Nach beendigtem
Verhör wurde der Mörder in ein unter-
irdisches Gefängnis gebracht, wobei
Gewalt angewendet werden -mußte.
Der Mörder wird strenge bewacht. Vor dem Ge-
fängnis hat sich eine Menge angesammelt, welche
fortwährend schreit: „Tötet ihn!" Den ganzen
Abend hindurch erwarteten die dichtgedrängten Massen
vor der Präfektur Nachrichten über das Befinden
des Präsidenten. Bei der Todesnachricht wuchs
die Aufregung ungeheuer. DieMassen warfen
sich aufdieRestaurants, wo italienische
Kellner bedienstet sind und stürmten auf
Las Gefängnis los, den Tod des Mörders verlangend.
Das Restaurant Casati wurde gänzlich
verwüstet, desgleichendieCafvsMatessi
und Maderni. Die Polizei schritt überall ein.
Besondere Maßregeln wurden getroffen, um das
italienische Konsultat zu schützen. Als einige Leute
französische Fahnen schwänkten, wurde geschrieen:
„Nieder mit den Fremden, hinaus mit
den Fremden!" Vor dem italienischen Kon-
sulat wurde die Menge mehrmals von der Polizei
zerstreut. Sie zog sich zurück mit dem Rufe: „Es
lebe die Armee!"
Deutsches Keich.
Berlin, 25. Juni.
— Die Kommission für die zweite Lesung
des Entwurss eines Bürgerlichen Gesetz-
buchs für das Deutsche Reich erledigte in den
Sitzungen vom 18. bis 20. Juni zunächst den
Rest der allgemeinen Vorschriften über letztwillige
Verfügungen. Die besonderen Vorschriften über
die Erbeinsetzung, welche Auslegungsregeln ent-
halten, sowie das Anwachsungsrecht und die Er-
satz-Erbeinsetzung betreffen, gelangten sachlich im
wesentlichen nach dem Entwurf zur Annahme. Die
Berathung wandte sich sodann den Vorschriften
über die Einsetzung eines Nacherben zu. Gegen
das Institut der Nacherbschaft als solches erhob sich
kein Widerspruch, jedoch erhielten einige Einzelheiten
ans Wunsch der Mehrheit eine andere Formulirung.
— Aus dem dieser Tage im „Reichsanzeiger"
veröffentlichten Entwurf betreffend die Erweiterung
der Unfallversicherung, dessen allgemeine
Bestimmungen wir bereits am Samstag mittheilten,
mögen hier noch einige Neuerungen nachgetragen
werden, die einem häufig geäußerten Wunsche ent-
sprechen. In dieser Beziehung heben wir zunächst
den § 105 der Vorlage hervor, wonach, falls bei
theilweiser Erwerbsfähigkeit eine Rente von zehn
oder weniger Prozenten der Rente für völlige Er-
werbsunfähigkeit festgcstellt ist, zwischen der Ünfall-
rerstcherungsgenossenschaft oder dec Berufsgenossen-
schaft und dem Entschädigungsberechtigten eine
einmalige Kapitalabfindung vereinbart werden kann.
Dadurch wird es einem verunglückten Arbeitnehmer
möglich gemacht, sich durch die Betheiligung an
einem Geschäft oder durch den Ankauf eines kleinen
Geschäfts eine weit vortheilhaftere Eristenz zu
gründen, als sie eine Rente in so geringen Pro-
zenten zu gewähren vermag. Als ein entschiedener
Fortschritt gegenüber dem bisherigen gesetzlichen Zu-
stande ist es auch zu begrüßen, wenn nach 8 17
an Stelle der Rente bis zum beendigten Heilver-
fahren freie Kur und Verpflegung in einem Kranken-
hause treten können. Diese Neuerung wird sich
bei allen denjenigen Verunglückten, die aus ver-
schiedenen Gründen eine sachgemäße und gute Be-
handlung zu Hause nicht finden können, sicher als
überaus wohltätig erweisen.
— Die Kommission für Arbeiter-
stat i st i k begann am Fre'tag Vormittag 10 Uhr im
Reichsamt des Innern ihre erneuten Berathungen
unter dem Vorsitz des Unterstaatssekretärs Wirk-

lichen Geh. Dr. v. Rottenburg. Namens
der Verbündeten Regierungen nahm an der Kon-
ferenz noch Theil u. A. Geh. Regierungsrath Dr.
Wilhelmi vom Reichsamt des Innern. Der
Kommission gehören an die Reichstagsabgeordneten
Prof. Dr. Kropatschek, Merbach, Hitze, Letocha,
Schmidt (Elberfeld) und Molkenbuhr. Der Kom-
mission ist zur Hauptaufgabe gestellt, die Er-
hebungen in Bäckereien und Konditoreien
zum Abschlüsse zu führen und das Schlußgutachten
an den Reichkanzler abzugeben. Dieselbe hat in
dieser Beziehung zwischen den Wegen zu wählen,
die Arbeitszeit in den fraglichen Arbeitsstätten
entweder durch Verordnung des Bundesraths oder
durch Erlaß eines Gesetzes zu bestimmen. Nach
diesen beiden Richtungen sind der Kommission
zwei Entwürfe unterbreitet worden. Der eine Ent-
wurf nimmt eine Maximalarbeitszeit vom 24
Stunden mit 3 Ueberstunden zu einem Lohne von
6 Mk. 72 Pfg. pro Woche an. Der andere Ent-
wurf geht dagegen von Arbeitsschichtssystem pro
Tag aus und läßt Schichten einschieben und aus-
fallen. Ferner soll die Kommission sich damit be-
schäftigen, wie die Erhebungen bezüglich des
Handelsgewerbes und der Getreidemühlen angestellt
werden sollen. Um die einschlägigen Verhältnisse
gründlich zu prüfen, sollen Auskunftspersonen zu
Gutachten veranlaßt werden. Diesen sind Ent-
schädigungen für ihre Gebühren zu zahlen. In-
folge dessen hat die Kommission ihr Augenmerk
heute der Festsetzung der Gebühren für diese Gut-
achter gewidmet. Nach Erledigung der Gebühren-
frage trat der Ausschuß für Bäckereien und Kon-
ditoreien zusammen. Erst am Montag wird die
Kommission zu diesem Punkte übergehen. Die
Kommissionssitzungen werden — wie man an-
nimmt — acht Tage in Anspruch nehmen.
— Die Jsteinnahme an Zöllen und Ver-
brauchssteuern hat in den ersten beiden Monaten
des Etatsjahres ein Mehr von 9280 379 Mark
ergeben, wovon 6 012 797 Mark auf die Zölle,
237 852 Mk. auf die Tabaksteuer, 3 339 256 Mk.
auf die Zuckersteuer, 239 366 Mk. auf die Salz-
steuer, 202 026 Mk. auf die Maischbottich- und
Branntweinmaterialsteuer, 63 176 Mark auf die
Brausteuer und Uebergangsabgabe von Bier ent-
fallen. Die Verbrauchsabgabe von Branntwein
und Zuschlag zu derselben hat ein Minus von
814 094 Mk. ergeben. Zu erwähnen wäre noch,
daß die Jsteinnahme aus dem Spezialkartenstempel
ein Minus von 3720 Mk. aufweist.
Kiel, 24. Juni. Bei der heute glänzend ver-
laufenen Parade hielt der Kaiser aus Anlaß
des Eintrittes des Prinzen Adalbert in die Marine
eine Ansprache, in derer nach der „Post" u. A.
sagte: „Durch Kabinetsordre von heute habe ich
meinen Sohn Prinz Adalbert von Preußen in
die Marine eingereiht. Wie sein Name es be-
sagt, ist er von vornherein für das tapfere See-
mannsleben bestimmt gewesen. Sein Eintritt am
heutigen Tage ist ein symbolischer Akt, erstens
insofern, als jeder preußische Prinz vom zehnten
Jahre ab wissen soll, daß er seine Kraft dem
Vaterlande zu widmen hat; zweitens ist es ein
Beweis meiner kaiserlichen Huld für meine Marine;
und drittens ein Zeichen des Vertrauens, das ich
zu meiner Marine habe. Die Geschichte meiner
Marine ist jung. Kämpfe mit lorbcerreichem
Ausgang sind ihr noch nicht beschieden gewesen;
aber sie hat, wo wir uns gezeigt haben, mit
Ehren bestanden. Der Monat, in dem der Ein-
tritt des Prinzen Adalbert vollzogen wird, ist für
unsere ganze vaterländische Geschichte von eminenter
Bedeutung. Herrliche Namen vergegenwärtigen
uns große Traditionen. Ich erinnere nur an
Hohenfriedberg und Waterloo, wo Preußens und
Britanniens Krieger Schulter an Schulter den Erb-
feind niederstreckten. Ferner an Kaiser Friedrich.
Ihm war es beschieden, das deutsche Schwert zu
führen, um die Gegner niederzuwerfen. Eine
weitere Arbeit sei es, den Stahl blank geschliffen
zu halten, damit, was Gott verhüten möge, wenn

ich euch rufe, ihr nicht nur mit Ehren sondern
auch mit Ruhm". Kontre-Admiral Aschenborn
dankte für die der Marine erwiesene Auszeichnung
und brachte ein Hoch auf den Kaiser aus. Prinz
Adalbert nahm an dem Parademarsch und dem
Abschreiten der Front theil. Vormittags hatte
man im Beisein des Kaisers Festgottesdienst ge-
halten.
Uns land.
Paris, 23. Juni. Der „Figaro" meldet aus
Tanger, der Sultan Abdul-Aziz dürfte nach
zehn Tagen in Fez eintresfen. Die Bewohner
von Mogador haben ihn begeistert ausgenommen.
In Tafilet sind ernste Unruhen ausgebrochen.
Ein spanisches Schiff ist nach Mazagan ab-
gedampst, um den ersten Theil der Kriegs-
entschädigung in Empfang zu nehmen.
Rom, 24. Juni. Der Ministerrath beschloß
heute, die gleichmäßige Besteuerung aller Kapital-
anlagen einschließlich der Rente im Prinzip aufzu-
nehmen, sich jedoch jedem Steuersatz zu widersetzen,
der den von der Zinsreduktion erhofften Ertrag
von 42 Millionen verringern könnte. Danach
würde die Regierung nur einen Steuersatz von 20
Prozent acceptiren, während die Kommission geneigt
ist, den von Brin vorgeschlagenen Satz von 15.60
Prozent anzunehmen. Jedenfalls wird ein Ein-
vernehmen erzielt und und die Steuererhöhung an-
genommen werden. Zu diesem Gegenstand ver
öffentlicht Staatsrath Bonfadmi im „Fanfulla"
einen vielbeachteten, „Die Steuer der Schande"
betitelten Artikel, worin er ausführt, daß die
Kammer mit der Zinsreduction den Weg des falliten
Schuldners beschreite, ohne das Defizit auch nur
entfernt zu tilgen. In sechs Monaten werde die
Situation noch schwieriger sein, und weil auch
dann die Agrarier einer höheren Belastung des
Bodens und die Generale den Ersparnissen im
Militäretat widerstreben werden, so werde man un-
fehlbar gezwungen sein, auf demselben Wege weiter-
zugehen, den man jetzt beschritten. Wer so handele,
habe kein Recht, sich über Bedingungen zu be-
schweren, die fremde Bankiers Italien auferlegen.
Schließlich erinnert Bonfadini an den Verfassungs-
artikel, der jede Verpflichtung des Staates gegen
Gläubiger für unvwletzlich erklärt. — In Folge
der letzten Anfragen über die Bankskandale soll der
Deputirte Narducci bereits sein Mandat niedergelegt
haben.
London, 23. Juni. Ungefähr 300 Abge-
ordnete aller Parteien haben eine Petition unter-
zeichnet zu Gunsten des Abschlusses eines Vertrages
zwischen England und den Vereinigten Staaten,
nach welchem alle Streitigkeiten einem Schieds-
gericht unterbreitet werden sollen. Ein ähnlicher
Antrag ist vor Kurzem im Senat zu Washington
von dem Senator Allison eingebracht worden.
Belgrad, 23. Juni. Echerzog Josef, Ober-
kommundant der ungarischen Truppen, der seit
gestern Abend in Semlin weilt, ließ noch Nachts
den König Alexander wissen, er möchte ihm Vor-
seiner Abreise nach Konstantinopel seine Aufwar-
tung machen. Ein königlicher Extrazug holte den
Erzherzog von Semlin ab, worauf auf dem Bahn-
hof in Belgrad eine ungemein herzliche Begrüßung
zuerst zwischen Milan, dann dem Könige Ale-
xander und dem Erzherzog stattfand. Der Erz-
herzog wünschte im Auftrage des Kaisers Franz
Josef deni König Alexander glückliche Reise, welcher
spontane Akt hier freudig überrascht hat. Der
König lud den Erzherzog ein, im Herbst nach
Belgrad zu kommen, welche Einladung dieser an-
nahm. Nach einem halbstündigen Ausenthalte
brachte ein königlicher Sonderzug den Erzherzog
nach Semlin, während Alexander gleichzeitig nach
Konstantinopel abreiste.
Sofia, 23. Juni. Der Metropolit Cle-
ment traf gestern Nachmittag hier ein und wurde
am Bahnhofe von einem zahlreichen Publikum
begrüßt. Die Nachricht verbreitete sich schnell.
Eine große Menschenmenge zog, den Fürsten und
Clement akklamirend, nach dem Metropoliten-

Gebäude. Der Metropolit trat auf den Balkon
und richtete an die Volksmenge eine von Beifall
unterbrochene Ansprache, in der er zur Ergeben-
heit gegen den Fürsten und zum Gehorsam gegen
die Gesetze ermahnte. Die Menge zog mit er-
neuten Zurufen zum Palais des Fürsten und
zerstreute sich sodann in vollster Ordnung. Es war
keine Polizei aufgeboten.
Badischer Landtag.
Karlsruhe, 25. Juni.
103. öffentliche Sitzung der Zweiten Kammer
unter dem Vorsitz des Präsidenten Gönner.
Am Regierungstisch: Ministerialpräsident Geh.
Rath Eisenlohr, später Ministerialdirektor H e ß
und Ministerialrath Schoch.
Präsident Gönner eröffnet 1/4IO Uhr die
Sitzung, worauf nach einigen geschäftlichen Mit-
theilungen in die Tagesordnung eingetreten wird.
Abg. Straub erstattet Namens der Budget-
kommission Bericht über das Budget des Mini-
steriums des Innern für die Jahre 1894 und
1895 Ausgabetitel XI H 8: „Beiträge zu der
Lebensversicherung der Rathschreiber", sowie über
die Petition des Badischen Rathschreibervereins, die
Versorgung und Hinterbliebenenversorgung der Rath-
schreiber betr-, und die Petition badischer Gemeinde-
beamter um gesetzliche Regelung der Pensionirung
und Hinterbliebenenversorgung betr.
An der Debatte betheiligten sich die Abgg.
Hug, Wilckens, Muser, Kögler, Fischer
und seitens der Regierung Geh. Rath Eisenl 0 hr.
Es folgt hierauf die Berathung einer Anzahl Peti-
tionen. Schluß der Sitzung 2 Uhr. Nächste Sitzung
Nachmittags 5 Uhr.
Aus Wutz unö Jern.
* Karlsruhe, 25. Juni. Es kann als fest-
stehend angenommen werden, daß mit Beendigung
der diesjährigen Herbstmanöver die in Mannheim
liegende Abtheilung Artillerie zum Regiment nach
Karlsruhe zurückoerlegt wird. Dieselbe wird in den
seitherigen Train-Kasernements untergebracht, während
das Train-Bataillon nach Durlach verlegt wird.
Das in Durlach liegende 3. Bataillon des Leib-
grenadier Regiments No. 109 muß dem Train
Platz machen und bezieht in der bis dahin fertig
gestellten Jnfanterie-Kafirne in der Moltkestraße
Quartier.
* Karlsruhe, 25. Juni. Auf eine bedauer-
liche Weife verunglückte Sonntag Vormittags der
Bursche eines Offiziers. Die ihm zur Aufsicht
übergebenen zwei Pferde gingen in der Rüppurer
Straße durch und setzten über die geschlossene Bar-
riere beim Bahnübergänge. Der Bursche wurde
dadurch von dem einen Pferde abgeworfen und fiel
so unglücklich, daß er einen doppelten Armbruch
und auch noch andere Verletzungen erlitt. Die
Pferde wurden auf dem Bahnkörper wieder auf-
gefangen und bis zu ihrer Abholung in dem dor-
tigen Landesgestütsstall untergebracht.
* Mannheim, 25. Juni. In der Näbe des
Floßhafens wurde gest-rn Abend dem ledigen Tag-
löhner Anton Grimm ein Stich in die linke
Schulter versetzt. Der Thäter, ein 18jähriger Tag-
löhner, wurde verhaftet.
* Schwetzingen, 23. Juni. In der Nähe
fand heute eine gemeinschaftliche größere Felddienst-
übung der Garnisonen Mannheim, Schwetzingen
und Speyer statt. Zur Ueberbringung von Mel-
dungen bei Vorpostendienst war bei jeder Kom-
pagnie ein ausgebildeter Velozipedist mit einem
Fahrrad. Nach der Felddienstübung wurde gemein-
schaftlich feldmäßig abgekocht und menagirt; die
Lebensmittel und das hiezu erforderliche Hol; wurde
in Wagen mitgeführt.
* Schwetzingen, 24. Juni. In der beute
Nachmittag unter dem Vorsitze des Herrn Bürger-
meisters Mechlin hier abgehaltenen Versammlung
von Hvpfenproduzenten wurde beschlossen, daß 00M
25. bis 28. September eine badische Hopfenaus-
stellung hier stattfinden solle. Aus den vorhandenen

Sie ihm großmüthig alles zugefügte Leid und wenn
sich dennoch der gerechte Stolz in Ihnen bäumt,
so denken Sie an die Worte der heiligen Schrift,
die da sagen: Was Du thust einen meiner ge-
ringsten Brüder, das hast Du mir gethan."
Ich wollte sprechen, den Grafen beruhigen, aber
er winkte mit der Hand Schweigen.
„Ich weiß, ich weiß, lieber Georg, was Sie
sagen wollen, er ist indeß nicht zu entschuldigen.
Seine schroffen Worte, die er Ihnen, dem treuen
anhänglichen Freund m's Gesicht geschleudert haben
mag, ahne ich und l"Ve sie hier tief im Herzen
und doch bitte ich um Erbarmen -für den Unglück-
lichen, dem ich meine Liebe trotz alle und alledem
niemals ganz- entziehen kann. Sie werden schnell
Karriere machen, liebes, braves Kind, und Hans
Ullrich —"
Es schüttelte den Greis wie Fieberfrost.
„Gnädigster Herr Graf, soll ich den Diener
herbeirufen?" fragte ich besorgt.
„Nein Georg", entgegnete er tonlos; zuerst
den Schwur."
„Ich schwöre es, Herr Graf, dem Sohn memes
edlen, gütigen Wohlthäters mit Rath und That
zur Seite zu stehen, wenn es das Schicksal m
seinen verborgenen Tiefen so bestimmt hat, daß sich
unsere Wege dereinst kreuzen und Hans Ullrich in
die Läge käme, der Hilfe eines Freundes zu be-
dürfen", sprach ich langsam. Jedes Wort schien
wie ein lindernder Balsam sich in des Grafen
Seele zu senken und wenn ich gewünscht hätte, mir
wäre dieses blindende Wort erspart geblieben, so
war ich jedoch machtlos dem heftigen Kampf gegen-
über, der in der Brust dieses unglücklichen Mannes

tobte und die irdische Hülle jeden Augenblick zu
vernichten drohte."
„Und Du wirst Dein verpfändetes Wort ein-
lösen, Georg?" fragte Lendang ängstlich gespannt.
„Ohne allen Zweifel, Vater, unsere Wege
gehen indeß so himmelweit auseinander, daß ich
zu Gott hoffe, wir sehen uns nie mehr wieder.
Hans Ullrich's Garnison ist die herzogliche Residenz,
ich hingegen werde weit ab vom Getriebe der Welt
mein Nestchen im grünen Walde bauen."
„Ahnt der Graf nichts von dem gehässigen
Vorgehen gegen meine arme Person", forschte Len-
dang weiter, die Augen in ängstlicher Erwartung
auf den Sohn gerichtet.
„Ich fürchte fast."
„Und Du beschönigtest es?"
„Ja, Vater, die Situation gebot es. Ich
dankte ihm für alle Güte und stellte ihm die Sach-
lage so dar, als geschähe die Aufgabe der Pacht
auf meinem speziellen Wunsch, weil Dein hohes
Alter die Strapazen einer so großen Landwirthschaft
nicht mehr überstehen könnte."
Lendang stützte das sorgenvolle Haupt in die
Hand; eine brennende Frage über seine Zukunft
schien ihm auf den Lippen zu schweben. Georg
beobachtete den alten Mann eine Weile, dann
klärte sich der düstere Blick, der auf seinem männlich
schönen Antlitz geruht hotte und sich erhebend, trat
er an des Bekümmerten Seite, legte den Arm um
dessen Nacken und sagte in freudiger Aufwallung:
„Laß Dich die Zukunft nicht beunruhigen, Vater, eine
Nachricht, die ich mir für den Abschiedstag Vorbe-
halten hatte, sollst Du schon jetzt erfahren. Durch
gütige Fürsprache meiner Vorgesetzten bei dem Ober-

forstrath hat man mir die vakant gewordene Stelle
des verstorbenen Oberförsters Weißling übergeben,
die ich in kurzer Zeit anzutreten habe. Es bean-
spruchen diese kolossalen Waldungen eine so große,
ausgedehnte Thätigkeit, daß der mir gehörende
Grund und Boden einer leitenden, praktisch geübten
Hand bedarf. Du würdest mir also unbedingt
einen großen Gefallen erweisen, wenn Du zu mir
übersiedelst, und Deine praktischen Erfahrungen
dort einsetzest.
(Fortsetzung folgt.)

Meines JeuMeton.
* Wie Fritz Reuter zu seiner „Lowise"
kam. Fritz Reuter war aus Heidelberg, wo er
nach dem Willen deö Vaters Jurisprudenz studieren
sollte, im Jahre 1850 ins Vaterhaus zurückgekehrt
und widmete sich auf der nicht unbedeutenden
Oekonomie seines Vaters zu Stavenhagen, dann
auf Demzin bei Malchin der Landwirthschaft. Hier
in Demzin — so entnehmen wir einem Nekrolog
des „Rostocker Anz." — lernte er seine jetzt gestorbene
Gattin, Frl. Luise Kuntze, eine Predigerstochter,
kennen, welche, in einer anderen Pfarrersfamilie
der Nachbarschaft als Erzieherin lebend, durch die
Anmuth ihrer Erscheinung und durch die Schönheit
ihrer Stimme einen so mächtigen Eindruck auf ihn
machte, daß er ihr Herz und Hand antrug. Seine
Bewerbung wurde zuerst abgewiesen. Seine Vor-
liebe für spirituöse Getränke, ein krankhaftes Be-
dürfniß, das durch keine moralische Macht beseitigt
werden konnte, war auch der Geliebten nicht ver-
borgen. Aber mit Ausdauer bestürmte Reuter das

Herz des Mädchens. Als Luise Kuntze eines Tages
im Garten Reuters Bewerbungen abermals abwies
warf er sich ihr an der Gartenthür in den Weg
und bat sie mit heiligen Schwüren um Erhörung-
Sie gab ihm, dem anscheinend zukunftslosen Men-
schen 1846 das Jawort. Im Frühjahr 185!
führte Reuter seine Luise heim, nachdem er sich in
Treptow an der Tolense als Schulmeister niederge-
lassen hatte. Luise hatte gehofft, das „Uebel" z^
beseitigen, wenn sie sein Weib würde, aber sie
hat den Feind nicht zu besiegen vermocht. Sie
errettete aber ein Leben, das sonst verloren gewesen
wäre. Wie oft in diesen langen Jahren bis zU
seiner Erlösung im Jahre 1874 hat dieses elfte
Leib sein dichterisches Schaffen angeregt und s"
die rechten Bahnen geleitet, trotz der Leidenszeit/
die mit furchtbaren Phantasien sein Gehirn durch'
wühlte. Wie oft hat seine Luise zu Papier gebrach"
was die Muse seiner Leidensnächte ihm cingegcben-
Jn einer Nacht ließ er durch Luise seine Grabschrisi
niederschreiben:
„Der Anfang das Ende, 0 Herr, sie sind dein,
Die Spanne dazwischen, das Leben, war mein.
Und irrt ich im Dunkeln, und fand mich nicht au»-
Bei dir, Herr, ist Klarheit, und licht ist Dein Haus -
Da bat Luise: „Mach' auch mir meine Grab-
schrift." — „Nein", erwiderte Reuter, „das er-
regt mich zu sehr!" — „Nun", rief Luise, „ff
will ich sie dir geben: „In der Welt habt ihr
Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt über-
wunden!"" — „O, nein, nein!" rief Fritz Reu^
aus, „die nicht! Das thut mir weh, deine Grad-
schrift soll sein:
„Sie hat im Leben Liebe gesäet,
Sie soll im Tode Liebe ernten."
 
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