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Heidelberger Familienblätter — 1886

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Nr. 18 - Nr. 26 (3. März - 31. März)
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— 91 —

peril and privation“ (Eine eiſenumgürtete Stadt oder
Fünf Monate Gefahr und Entbehrung). Ein ebenſo
witziges wie unterhaltendes als lehrreiches Buch; ein Kranz
von drolligen Einfällen und charakteriſtiſchen Anekdoten,
eingeflochten in die innere häusliche Geſchichte der Stadt
und ihrer Regierung; und dabei für den Standpunkt des
Verfaſſers auffallend unparteiiſch. Denn wenn auch O'Shea
als Ire, Katholik und Vertreter des anfangs franzoſen-
freundlichen Standard mit nachſichtigem Auge auf Frank-
reich ſchaute, ſo ward ihm doch, dem ſinn⸗ und ſaftloſen
Treiben der Pariſer gegenüber, die Aufgabe, keine Satyre
zu ſchreiben, allzu ſchwer, ſodaß er eigentlich gegen ſeinen
Willen zu einem Verſpotter der Franzoſen und einem Lob-
redner der Deutſchen wurde. Das Buch beginnt mit den
Hoffnungen und Befürchtungen, welche die Pariſer betreffs
der Einſchließung hegten. Sollte es möglich ſein, daß im
Jahre 1870 der chriſtlichen Zeitrechnung, im Alter des
Dampfes und der Elektrizität, deutſche Soldaten auf fran-
zöſiſchem Boden lagern, franzöſiſche Weine unter franzö-
ſiſchen Dächern trinken und nach Gutdünken zum Angriff
auf die franzöſiſche Hauptſtadt losmarſchiren würden!
meinten die Philiſter. Jawohl — antworteten die Ge-
lehrten —, Korinth ward von Mummius und Rom von
Genſerich geplündert; der Tempel von Theben von Alexan-
der zerſtört und die Bibliothek von Alexandrien, ſagt man,
von Omar verbrannt; daſſelbe kann alſo auch Paris trotz
Ringmauer und Forts zuſtoßen! Und die Gelehrten hatten
Recht; die Deutſchen rückten an und Victor Hugo ſah ſich
veranlaßt, die Städte Frankreichs zum Kampf gegen die
Feinde aufzufordern. Armer alter Hugo — ſagt O'Shea
ſpöttiſch —, wenn du an der Spitze der mächtigſten Barden-
abordnung von Homer an ſtändeſt, ſo würde dein leiden-
ſchaftlicher Ruf nicht eine einzige Runzel aus der Stirn
Moltkes wegglätten! Nein, wenn ſelbſt die neun Schweſtern
Bismarck beſuchten, ich glaube, dieſer praktiſche Herr würde
die hehre Melpomene unter das Kinn faſſen und Terpſichore
bitten, mit ihm ein paar Schritte eines bayeriſchen Walzers
zu tanzen. Kaum war die Stadt eingeſchloſſen, ſo begann
die Spionenriecherei in der widrigſten Form. Keine platt-
buſige Frau von außergewöhnlicher Größe durfte ſich auf
die Straße wagen, ohne ſofort für einen verkleideten preuß.
Offizier angeſehen und verfolgt zu werden. O'Shea ſah
ſolch ein armes Weib, wie es gehetzt, von einem tollen
Pöbelhaufen, von einem Nationalgardiſten nach dem Wacht-
poſten geſchleppt wurde. Auf O'Sheas Frage, wen ſie
abgefaßt hätten, erhielt er die Antwort: „Frau v. Bis-
marck.“ O'Shea ſelbſt gerieth in große Gefahr, als die
Vérité auf den Standard als ein „Frankreich bekanntlich
feindlich geſinntes Blatt“ anſpielte. Denn in dem Viertel,
in welchem er wohnte, gab es Patrioten genug, welche dem
Vertreter eines frankreich⸗feindlichen Blattes gern ein
Glied nach dem andern gebrochen hätten; ſagte doch ein
Bürger in O'Sheas Gegenwart, er äße lieber ein Stück
preußiſchen Spions als ein von einem cordon bleu zu-
bereitetes und mit einer Flaſche Sillery begoſſenes Roaſt-
beef. Mit großem Humor erzählt O'Shea, wie allmälig
das Fleiſch ausging; wie ſie eines Tages zum Reſtaurant
Brebant kamen und dort auf der Speiſekarte als einziges
entrée eine Sardine, als hors d'heuvre eine ſaure Zwiebel
und als pisce de résistance Schweinefleiſch laſjen. Darauf
folgte die Zeit des Pferdefleiſches und ſchließlich die des
trocknen Brodes; aber dies ſowie vieles andere war leichter
zu ertragen, als der Mangel an Nachrichten von draußen,
von der Welt und der Familie. Wochenlang — ſchreibt

er — waren wir betreffs unſerer Kenntniß von den Außen-

dingen auf gelegentliche Blätter der Kölniſchen Zeitung an-
gewieſen, die wir in den Taſchen todter Rheinländer um
Würſte gewickelt fanden, oder auf einzelne Nummern des
franzöſiſch⸗preußiſchen Blattes von Verſailles, das irgend

Thränen vergoſſen zu haben.

haben, iſt allgemein bekannt.

ein unternehmender Streifzügler aufgabelte. Wenn Stellen
aus dieſen Zufallschroniken von den Pariſer Redacteuren
veröffentlicht wurden, entſtand ein förmlicher Sturm auf
die Zeitungskiosks. Bei dem Suchen nach Zeitungen fand
man häufig in den Taſchen der todten Deutſchen rührende
Briefe. So ſchrieb eine Gabriele an ihren Bruder Bern-
hard Laecke: Spute dich, bombardire Paris und mach's
fertig. Ein anderes Mädchen, Anna, ſchreibt an den Baier
Joſeph Wachinger, der im Hoſpital zu Paris ſtarb, von
Oberdingen aus: Ich hoffe auf deine glückliche Rückkehr,
Joſeph, Du mein Verlobter, der einzige, den ich lieben
kann und werde! O'Shea geſteht, beim Leſen dieſer Briefe
Als Paris ſpäter geöffnet
ward, ging er daher mit ſtark deutſch⸗freundlichen Geſin-
nungen nach Verſailles. Das Buch ſchließt mit dem Einzug
der Deutſchen in Paris, welchem O'Shea vom Rond Point
aus beiwohnte. Seine Schilderung iſt muſterhaft. Plötz-
lich — ſo ſchreibt er — erhoben ſich die Klänge prächtiger
Blechmuſik. Die Deutſchen nahten. Welch tüchtige und
ſtattliche Reihen mächtiger Legionen, die modernen Hämmer
der Erde, die mit tapferer Haltung vorbeidonnerten, ihre
Schlachtenflaggen über den Häuptern ſchwenkend. Vor-
wärts marſchirten ſie in ſteten Reihen, ſtark und gerade
wie Speere, ſtrahlend vor Stolz, zum Klange von Pauken
und Trompeten; bald auch raſſelte eine Batterie Feld-
artillerie vorbei. Das Schauſpiel war das packendſte, das
ich je geſehen. Als ich nach dem Triumphbogen zuſchritt,
auf dem die lange Liſte franzöſiſcher Sieger eingegraben
war, ſtand ein Landwehr-Offizier mit gefalteten Armen
darunter, ſie mit neugierigem Geſichtsausdruck ſtudirend.
„Jena und Oſtrolenka“, las er, ſeine Lippen aufwerfend,
und dann, als er die breite, vom Walde deutſcher Bajonette
blitzende Allee herunterblickte, fügte er mit freudiger Er-
hebung hinzu: „Na, die haben wir auch nicht vergeſſen.“
In der That hatten die Deutſchen Jena und Oſtrolenka
nicht vergeſſen. Es war ſo war wie die Bibel. Damit
ſchließt das Buch. ö

Profeſſor Dr. Schweninger.

Von dem Profeſſor Dr. Schweninger erſcheint dem-
nächſt im Verlage von Fiſcher's mediciniſcher Buchhand-
lung: „Geſammelte Arbeiten. I. Band.“ Das Buch iſt
„Seiner Hochgeboren dem Herrn Grafen Wilhelm v. Bis-
marck gewidmetL. Demſelben widmet der Verfaſſer ein
längeres Schreiben, dem wir nach der Kreuzzeitung das
Folgende entnehmen: „Als ich im Jahre 1879 in die
praktiſche ärztliche Thätigkeit gedrängt wurde, da hatte ich

keine Ahnung, daß dieſelbe eine Ausdehnung und Bedeu-
tung gewinnen würde, wie ſie heute vorliegt.

Dadurch,
daß Sie nach jahrelangen, vergeblichen Conſultationen und
Bädergebrauche gegen eine hochgradige Gicht auch noch
bei mir ſich Rath zu erholen den Muth hatten, und daß
dieſer bei Ihrer ſtaunenswerthen Energie zu dauerndem Er-
folg führte, iſt meine Thätigkeit auch weiteren Kreiſen be-
kannt geworden. Freilich für dieſe war nur der Neben-
erfolg, der gleichſam mit als reife Frucht abfiel — die
Befreiung von erheblicher Körperfülle — in die Augen
ſpringend. Und als vollends mir die Ehre zu Theil ward,
den Reichskanzler, Ihren Durchlauchtigſten Herrn Vater,

zu behandeln und von den bedenklichen Störungen der Er-

nährung, der bedrohlichen Zerrüttung von Körper⸗ und
Nervenkraft zu heilen, da richtete ſich bekanntlich und be-
greiflicher Weiſe eine Welt von Augen auf meine Thätig-
keit. Was Unkenntniß und Bosheit neben abſoluter Un-
kenntniß der Verhältniſſe ſeit dieſer Zeit zu Tage gefördert
Unbekannt aber iſt geblieben,
daß gerade bei dem Fürſten damals durchaus
 
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