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Donath, Adolph [Hrsg.]
Der Kunstwanderer: Zeitschrift für alte und neue Kunst, für Kunstmarkt und Sammelwesen — 8./​9.1926/​27

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1./2. Februarheft
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Graff, Hans: Linie und Lebensgefühl
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https://doi.org/10.11588/diglit.25876#0257

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schen Empfinden, mit ihren Capricen und Launen offen-
bart so ganz dieses Zeitalter und diesen Zeitstil. Alles
Harte, Bäuerliche ist ihr einfach eine Unmöglichkeit und
Geschmacklosigkeit.

Man denke in diesem Zusammenhang auch an das
wunderschöne „Haus zum Falken“ in Würzburg. Durch
die springende Linie — es ist der Juliusstil — wird der
Eindruck des Tanzenden und Lustigen bei dem Beschauer
erzeugt. Klingt nicht die ganze Zeit der Schäferspiele,
der Amoretten auch des manirierten und geschniegelten
Zeitgeistes in der Linienführung des Häuserstils, wie den
Gegenständen des täglichen Lebens in der runden Linie
uns entgegen? Jenes Stilgefühl ist es, das nicht einmal
gerade Beine vertragen konnte! Ist nicht das Rokoko
im letzten Grunde in seiner springenden Linienführung
der Ausfluß einer tollen sich überschäumenden Laune?

Dies ist nämlich das interessante Ergebnis unserer
Betrachtung: Die Linie ist einmal der Ausdruck
eines bestimmten Lebens- und Stilgefühls, auf der ande-
ren Seite erzeugt sie wieder als U r s a c h e ein Lebens-
gefühl in uns.

Gewaltig zeigt sich der Unterschied der Wirkung
der Linie, wenn wir eine romanische und eine gotische
Kirche miteinander vergleichen. Treten wir in St. Peter
in Rom ein, so haben wir den Eindruck nicht in einem
Gotteshause zu sein, sondern in einem Palaste; stehen
wir dagegen im Kölner Dome, so haben wir die Empfin-
dung, wir sind Gäste in diesem Gotteshause, wie über-
haupt hier auf Erden. Alle Linien strömen in die Höhe.
Der Schwerpunkt dieses gotischen Stils, dem alle Ge-
mütlichkeit des Rundbogenstils, wie Viktor v. Scheffel
den romanischen Stil nennt, fehlt, liegt jenseits alles Irdi-
schen. Diese Linien erzeugen in uns das Gefühl: sursum
corda. Charakteristisch ist auch daher für den gotischen
Kirchenstil das Hochsitzen des Lichtakzents; kein Wun-
der, daß gerade der Germane den gotischen Stil, der
nicht auf seinem Boden entstanden ist, mit aller Innig-
keit erfaßt hat, und daß gerade die gotische Kirche der
Ausdruck für sein inneres Sehnen geworden ist. Wäh-
rend die italienische Kunst in ihrer größten Vollendung
alle Herrlichkeiten dieser Erde, den Festtag in all seinem
Glanze darstellt, hat die germanische Kunst, der Kampf-
natur, deutscher Eigenart entsprechend, den Unterschied
zwischen Nacht und Licht, man denke an Rembrandt,
dargestellt, und gerade dies unendliche Sehnen nach
innerer Befreiung und Erlösung, dieser ungeheure Drang
nach Licht hat im gotischen Stil den eigentlichen Reso-
nanzboden gefunden. Dagegen wirkt die runde Linie
im romanischen Kirchenstil begrenzend und fast
drückend.

Machen wir noch ein anderes Experiment, setzen
wir uns auf ein Sofa oder auf eine Bank mit einem ande-
ren zusammen und gleich hinterher auf zwei Stühle
nebeneinander. Welches ist wohl der Unterschied im
Lebensgefühl, wenn wir mit einem Menschen auf einer
Bank oder wenn wir auf zwei Stühlen nebeneinander
sitzen? Eine alte Dame, der ich einmal diese Frage vor-
Iegte, antwortete mir scherzhaft: „Wenn ich noch jung
wäre, hätte ich gesagt, dichte bi ist besser als vis ä vis.“

Das Eigenartige ist, daß die äußere Einheit der Bank, die
durchgehende Linie in den Menschen, die auf der Bank
sitzen, eine innere Einheit erzeugt, während dieselben
Menschen, sitzen sie auf zwei Stühlen nebeneinander,
getrennte Welten bleiben. Daher ist es ganz charakte-
ristisch, wenn es manchmal in Romanen heißt, daß, wenn
zwei Liebende, die auf einer Bank sitzen, sich zanken,
der eine von den beiden plötzlich aufspringt, weil er
diese innere Einheit, in die ihn die äußere Einheit der
Bank hineinzwingt, die aber in krassestem Widerspruch
zu seinen augenblicklichen Seelenzustand steht, einfach
nicht mehr aushalten kann.

Es gibt oder gab in Berlin elektrische Bahnen mit
langen Bänken und solche mit einzelnen Sitzen, wie sie
jetzt vorherrschend geworden sind. Fragt man, wo
einer lieber sitze, auf der langen Bank oder auf dem ein-
zelnen Sitze, so werden Dutzendnaturen antworten, es
sei ihnen gleichgültig; feiner abgestimmte Menschen
ziehen die einzelnen Plätze vor. Warum wohl? Auch
hier wieder die interessante Wirkung, daß man sich mit
den Menschen, mit denen man zusammen auf einer lang-
gestreckten Bank sitzt, plötzlich bewußt oder unbewußt
als innere Einheit empfindet. Eine Einheit, die man aber
gar nicht will, oder häufig als störend erlebt, während
auf den einzelnen Sitzen jeder mehr sich als eigene Per-
sönlichkeit empfindet und nicht als das Herdentier auf
der langen Bank.

Die Bedeutung der Linie hängt auch nah mit dem
Begriff des Malerischen zusammen; es ist nämlich sehr
interessant, daß ein Gebäude z. B. mit festumgrenzten
starren Linien niemals in uns den Eindruck des Male-
rischen erweckt, während eine Ruine, deren Linie durch-
brochen ist, auf uns, wir wir sagen, malerisch wirkt.
Es läßt sich der Satz aufstellen: Wo die Linie anfängt
weich zu werden, beginnt das Malerische. Warum? Die
Linie gebietet unserer Phantasie Einhalt, sie schafft einen
festen Horizont; schwinden die Linien, so hat die Phan-
tasie freien Spielraum und ein ganz anderes Gefiihl ent-
steht in uns, das Gefühl des Malerischen. Kein Wunder
daher, daß bei dem echt germanisch in harter Linienfüh-
rung empfindenden und schaffenden Albrecht Diirer nach
seiner italienischen Reise die Konturen anfangen weicher
zu werden. Es ist das eine Wirkung, wie wir sie fast
bei allen bedeutenden Menschen, die nach Italien gingen,
zu allen Zeiten beobachten können. In Italien, dem Ur-
boden der Antike, verschwindet der enge Horizont des
gewöhnlich historisch eingestellten Deutschen, er macht
sich frei von beengenden Gesetzen, edle Einfalt und stille
Größe, um mit Winkelmann zu sprechen, gewinnen über
ihn Macht und machen ihn zu einer freieren und befrei-
ten Persönlichkeit.

Mögen diese Beispiele genügen, um die unbewußte
oder bewußte Wirkung der Linie auf unser Lebensgefühl
zu zeigen und auf der anderen Seite auch darzutun, wie
Art und Führung der Linie Ausdruck eines inneren Le-
bensgefühls sein können. Wie also Linie und Gefiihl lfl
einem adäquaten Verhältnis, in einer Art Assoziation zu-
einander stehen.

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