Künßleü
oon
Atfced Kut)n
Wir entnehmen diesen „Prologus“ dem nehen Buche
Alfred Kuhns iiber den Schweizer Bildhauer H e r m a n n
H a 11 e r , das im Mai bei Orell Fiissli in Zürich erschei-
nen wird.
\\^ie es im Strom des geschichtlichen Lebens Inseln
gibt, an denen die Boten der Tagesknltur vor-
überfahren, ohne sie zu berühren, so gibt es im Flusse
der künstlerischen Entwicklung Bezirke, in denen man
nichts weiß von den Problemen der Prinzipienkämpfe,
wo pflanzenhaft schöne Geschöpfe blühen, wie einst vor
hunderten von Jahren. Nicht als ob ihnen alles fehlte,
was die Mitlebenden als wertvoll an der Zeit empfänden;
landet docli wöhl einmal ein Schiff an jenen Inseln mit
neuen, blitzenden Geräten und Instrumenten — aber der
Lärm des hastigen Getriebes bleibt fern. Flier nährt
man sich unbekümmert von köstlichen Gewürzen, die
mutige Entdecker fiir andere Häfen eroberten. Auf dem
eigenen Boden bringt der Same hundertfältige Frucht,
denn schwer ist er, reich, jungfräutich, und eine gütige
Sonne bedeckt ihn mit mütterlicher Wärme.
Von jeher haben diese Oasen der künstlerischen
Entwicklung gegrünt; Menschen haben sie bewolmt und
gepflegt, deren individuelles Eigenleben wenig nur
verbunden war mit dem ihrer Zeit; die weit entfernt
davon, gegen diese leben zu wollen, gar als Empörer und
Apostel, doch zu innig mit dem Boden selbst vcrwachsen
waren, zu deutlich die Muudart der Natur vernahmen,
von Acker und Baum, von Wald und See, als daß sie
das Bediirfnis empfunden hätten, sich der kunstvoll ent-
wickelten Ausdrucksform des Tages zu bedienen. Ihr
Leben ist, gesehen vom Standpunkt des großen Welt-
regiments, unwesentlich. Es ist nicht das des Kriegers
oder Kämpfers, des Ingenieurs oder Baumeisters. Es
ist auch nicht tragisch oder heroisch. Es ist vergleich-
bar dem des Bauern, vielleicht dem des Züchters. Am
Herzen der Natur verfließt es, und mit jedem Schlage
ihres Pulses strömt B'lut hinüber, rot, leuchtend und
warm, es immer von neuem speisend. Hier liegt sein
Glück; nicht in der überragenden Existenz auf den
Höhen, wo es kalt ist und einsam, wo tief unten die Erde
und ihr dumpf dampfender Sclioß sich lagert, wo der
klare, scharfe Geist schmerzvoles Entzücken gewährt.
Ungeistig, oder besser gesagt, unverstandlich, ist diese
Existenz, unmittelbar naturhaft, verschwenderisch,
überströmend und deshalb beglückend, wie alles unbe-
dacht Schenkende.
Priift man Vertreter solchen Wesens, so iiberrascht
ihre Aehnlichkeit kaum. Immer sind sie Lyriker gewe-
sen; durch ihren Mund hat die Natur gesungen und ihre
Werke sind verständlich geblieben zu allen Zeiten, so-
lange Sommer und Winter, Liebe und Schmerz, die Men-
schen regieren. In ilmen spricht die Natur von sicli.
Aus Gebundenheit löst sicli eine Zunge, um die Wonne
des Seins zu besingen. Es ist, als ob die Säfte des
Lebens überströmten, und aus dem Ueberfluß die Kunst
geboren würde.
Naturhaft lyrisch, hat sie alle Stimmungen ihrer
Herkunft. Sie kennt das Klare, Helle des Morgens, das
Pralle, Geladene des Mittags und die Trauer der sinken-
den Nacht. Sie kennt das Zarte, Jungfräuliche des Früh-
lings, die schwere, brütende Glut des Sommers und die
fruchtbare Reife des Herbstes. Nur den Krampf kennt
Hermann Häller, Mädchen
sie nicht. In ihr ist keine Dualität, kein Wünschen nach
dem Andcrssein, kein psychischer Konflikt. Geist und
Körper sind eins. Ihre Freude ist die Freude der Natur,
die ihrer Bestimmung entgegeneilt. Ihre Trauer ist die
Trauer tiber das Sichauflösen, über das Aufhören im
Lichte des Seins. Eine ganz leise Wehmut durchzieht
sie; ist doch alles Leben ein Sterben.
Es gibt tragische und lyrische Künstler, wie es tra-
gische und lyrische Menschen gibt, nur ist ihr Wesen
sichtbarer. Die tragischen „wollen“, oder ein Dämon
will in ihnen. Sie sprengen die Form, das Hergebrachte
wird zerbrochen. Ein unablässiger Kampf ist ihr Leben.
Eerdinand Hodler ist ihr Prototyp. Alle Schrauben zieht
er an, alle Kessel sind geheizt. Auf einem Panzerwagen
scheint er zu leben, kämpfend, sinnend, immer sich sam-
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Atfced Kut)n
Wir entnehmen diesen „Prologus“ dem nehen Buche
Alfred Kuhns iiber den Schweizer Bildhauer H e r m a n n
H a 11 e r , das im Mai bei Orell Fiissli in Zürich erschei-
nen wird.
\\^ie es im Strom des geschichtlichen Lebens Inseln
gibt, an denen die Boten der Tagesknltur vor-
überfahren, ohne sie zu berühren, so gibt es im Flusse
der künstlerischen Entwicklung Bezirke, in denen man
nichts weiß von den Problemen der Prinzipienkämpfe,
wo pflanzenhaft schöne Geschöpfe blühen, wie einst vor
hunderten von Jahren. Nicht als ob ihnen alles fehlte,
was die Mitlebenden als wertvoll an der Zeit empfänden;
landet docli wöhl einmal ein Schiff an jenen Inseln mit
neuen, blitzenden Geräten und Instrumenten — aber der
Lärm des hastigen Getriebes bleibt fern. Flier nährt
man sich unbekümmert von köstlichen Gewürzen, die
mutige Entdecker fiir andere Häfen eroberten. Auf dem
eigenen Boden bringt der Same hundertfältige Frucht,
denn schwer ist er, reich, jungfräutich, und eine gütige
Sonne bedeckt ihn mit mütterlicher Wärme.
Von jeher haben diese Oasen der künstlerischen
Entwicklung gegrünt; Menschen haben sie bewolmt und
gepflegt, deren individuelles Eigenleben wenig nur
verbunden war mit dem ihrer Zeit; die weit entfernt
davon, gegen diese leben zu wollen, gar als Empörer und
Apostel, doch zu innig mit dem Boden selbst vcrwachsen
waren, zu deutlich die Muudart der Natur vernahmen,
von Acker und Baum, von Wald und See, als daß sie
das Bediirfnis empfunden hätten, sich der kunstvoll ent-
wickelten Ausdrucksform des Tages zu bedienen. Ihr
Leben ist, gesehen vom Standpunkt des großen Welt-
regiments, unwesentlich. Es ist nicht das des Kriegers
oder Kämpfers, des Ingenieurs oder Baumeisters. Es
ist auch nicht tragisch oder heroisch. Es ist vergleich-
bar dem des Bauern, vielleicht dem des Züchters. Am
Herzen der Natur verfließt es, und mit jedem Schlage
ihres Pulses strömt B'lut hinüber, rot, leuchtend und
warm, es immer von neuem speisend. Hier liegt sein
Glück; nicht in der überragenden Existenz auf den
Höhen, wo es kalt ist und einsam, wo tief unten die Erde
und ihr dumpf dampfender Sclioß sich lagert, wo der
klare, scharfe Geist schmerzvoles Entzücken gewährt.
Ungeistig, oder besser gesagt, unverstandlich, ist diese
Existenz, unmittelbar naturhaft, verschwenderisch,
überströmend und deshalb beglückend, wie alles unbe-
dacht Schenkende.
Priift man Vertreter solchen Wesens, so iiberrascht
ihre Aehnlichkeit kaum. Immer sind sie Lyriker gewe-
sen; durch ihren Mund hat die Natur gesungen und ihre
Werke sind verständlich geblieben zu allen Zeiten, so-
lange Sommer und Winter, Liebe und Schmerz, die Men-
schen regieren. In ilmen spricht die Natur von sicli.
Aus Gebundenheit löst sicli eine Zunge, um die Wonne
des Seins zu besingen. Es ist, als ob die Säfte des
Lebens überströmten, und aus dem Ueberfluß die Kunst
geboren würde.
Naturhaft lyrisch, hat sie alle Stimmungen ihrer
Herkunft. Sie kennt das Klare, Helle des Morgens, das
Pralle, Geladene des Mittags und die Trauer der sinken-
den Nacht. Sie kennt das Zarte, Jungfräuliche des Früh-
lings, die schwere, brütende Glut des Sommers und die
fruchtbare Reife des Herbstes. Nur den Krampf kennt
Hermann Häller, Mädchen
sie nicht. In ihr ist keine Dualität, kein Wünschen nach
dem Andcrssein, kein psychischer Konflikt. Geist und
Körper sind eins. Ihre Freude ist die Freude der Natur,
die ihrer Bestimmung entgegeneilt. Ihre Trauer ist die
Trauer tiber das Sichauflösen, über das Aufhören im
Lichte des Seins. Eine ganz leise Wehmut durchzieht
sie; ist doch alles Leben ein Sterben.
Es gibt tragische und lyrische Künstler, wie es tra-
gische und lyrische Menschen gibt, nur ist ihr Wesen
sichtbarer. Die tragischen „wollen“, oder ein Dämon
will in ihnen. Sie sprengen die Form, das Hergebrachte
wird zerbrochen. Ein unablässiger Kampf ist ihr Leben.
Eerdinand Hodler ist ihr Prototyp. Alle Schrauben zieht
er an, alle Kessel sind geheizt. Auf einem Panzerwagen
scheint er zu leben, kämpfend, sinnend, immer sich sam-
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