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Donath, Adolph [Hrsg.]
Der Kunstwanderer: Zeitschrift für alte und neue Kunst, für Kunstmarkt und Sammelwesen — 8./​9.1926/​27

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1/2. Novemberheft
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Schmitz, Hermann: Schlußwort zum Reichsehrenmal
DOI Artikel:
Ury, Lesser: Meine Reise nach London
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https://doi.org/10.11588/diglit.25876#0121

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und für das Volk, nicht wieder vom Erdboden ver-
schwinde.“

So sprach Abraham Lincoln. Auch wir sollten, meine
Damen und Herren, statt des Trachtens nach Gelegenhei-
ten zu sentimentalen Aeußerlichkeiten, wertlosen Beteu-
erungen, lauten Massenkundgebungen unser ganzes Sin-
nen, unsere gesamte praktische Lebensarbeit darauf
vereinigen, in Deutschland echten Bürgersinn, den Geist

der Sachlichkeit, der Achtung vor der Arbeit und der
Meinung unserer Mitbürger, den Gedanken der Brüder-
lichkeit, der Hilfsbereitschaft, der gerechten und billigen
Denkweise besonders den Schwächeren gegenüber zu
entwickeln, um unser Volk aus seiner tiefen sozialen und
geistigen Not und seelischen Verwirrung zu erheben.
Dann werden die Millionen deutscher Brüder nicht um-
sonst gestorben sein.

Metne Retfe nacb tondon

oon

Lcffct? Ucy

„Der Kunstwanderer“ hat sich an Lesser Ury mit
der Bitte gewandt, die Eindriicke niederzuschreiben, die
er von London empfangen hat. Ury, der kurz vor der
Feier seines 65. Geburtstages (7. November) aus London
nach Berlin zurückgekehrt ist, hielt sich mehrere Wochen
in der englischen Hauptstadt auf, um dort zu malen. Der
Meister schreibt nun dem „Kunstwanderer“:

or vielen Jahren ist der leider allzufrüh verstor-
* bene Aesthetiker Lelix Poppenberg gemeinsam
mit Professor Oskar Bie —- ich war damals, noch mit
den Herren befreundet — jin London gewesen. Als ich
mit ihnen dann in meinem Atelier sprach und sie mir
ihre Eindrücke erzählten, war es besonders eine Mit-
teilung die mich frappierte: sie hatten näml'ich vor den
Bildern Turners in London ausgerufen: „Das is.t ja
Ury“. Ich hatte bis dahin niemals etwas von Turner
gesehen, aber ich wurde durch die Erzählung der Her-
ren auf die Bilder des Engländers aufmerksam, von
dessen großer Bedeutung für die moderne Kunst ich
schon viel gehört hatte. Und mir kam in jenen Tagen
die Idee, nach London zu gehen. Aber das. Leben ging
weiter und ich konnte mich erst in diesem Jahre ent-
schließen, meine Reise nacli London zu wagen.

Die Eindrücke, die ich von der Hauptstadt Eng-
lands empfing, sind ungemein stark. Welch ein Reich-
tum! Und welcli ungeheure Fülle von Kunstschätzen
verstand dieser Reichtum zusammenzutragen! Die
Tate-Gallery ist wolil mit die hervorragends.te Kunst-
sammlung, die eine Nation ihrer lebenden Kunst er-
richtet hat, doch sie ist nicht nur das großartigste Denk-
mal für die englischen Künstler, sondern sie umfängt
auch die s,chönste Sammlung an Werken der franzö-
sischen Moderne. Und ihr Eigentümliches ist, daß ihr
Zustandekommen hauptsächlich durch Geschenke von
Privaten ermöglicht wurde, und daß sie auch jetzt noch
durch die englischen Mäzene gefördert wird. Und wenn
man bedenkt, daß die Tate-Gallery zumeist durch Stif-
tungen gewachsen ist, empfindet man Schmerz und
Leid, daß solche Hochherzigkeit nicht auch unseren
Deutschen Galerien zugutekommt.

Die Tate-Gallery erhielt in den letzten Monaten
einen großen Teil der Werke von Sargent, dem verstor-

benen amerikanisch-englischen Maler. Auch diese
Kollektion ist Stiftung. Und auch die Reihe der modernen
Franzosen, von Manet an bis Degas und bis zu dem Hol-
länder van Gogh ist zum Teil durch Schenkungen auf-
gebaut. Aber es würde zu weit führen, alle Einzelheiten
zu nennen. Und so möchte ich nur von Turner sprechen,
den ich jetzt zum überhaupt ersten Male gesehen habe.
Turner hat selbst cirka 280 Gemälde, 19 000 Zeichnungen
und Skizzen der englischen Nation geschenkt. Er ist ein
Genie, der alle seine Zeitgenossen überstrahlte und es
scheint mir die größte Ironie der Vorsehung zu sein, daß
eine Nation, wie die englische, die ihr Leben nur auf
Erwerb und Erfolg gestellt hat, eine so ungewöhnliche
Künstlernatur hervorbringen konnte. Seine Bilder sind
herrliche Schöpfungen, wie man sie niemals wieder-
findet. Freilich: wenn man die Sonne von Monet sieht,
wirken die Turners noch dunkel. Aber das tut nichts
zur Sache: das Genie, das aus seinen Werken spricht,
bleibt unvergänglich.

In der National-Gallery sind die stärksten Bilder von
Turner „Odysseus und Polyphem“ und jenes Bild, das
nur aus Farbenflecken mit dem Spachtel breit hingesetzt
ist und für die Zeit von 1830 schon eine unerhörte Lei-
stung malerischer Technik bedeutet: in dem Bilde „Great
Western Raylwaie“ wird zum ersten Mal die malerische
Bedeutung der rasenden Lokomotive und des Rauches
offenbar. Und was die National-Gallery an Schätzen der
altdeutschen Meister, wie Holbein u. a. hat, an Schätzen
der Holländer und Flamen, wie Rembrandt und van
Dyck, und an Hauptwerken der großen englischen Por-
trätisten des 18. Jahrhunderts, wie Gainsborough, Rey-
nolds usw„ ist ja so bekannt, daß ich mich hierüber
nicht weiter verbreiten möchte. Aber ich wiederhole
nochmals: alles, was man durch Reichtum an Kunst-
schätzen erwerben kann, hat die englische Nation sich
gesichert.

Ich war einige Wochen in London, aber ich ging
nach der Theinsestadt, um zu arbeiten, um Stimmungen
zu malen. Und es war gar nicht leicht, die feuchte,
silbrige, graublaue Luft zu malen, die gar nicht zu fassen
ist und die eigentlich iin Nebel verfließt. Brücken, Häu-

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