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Donath, Adolph [Hrsg.]
Der Kunstwanderer: Zeitschrift für alte und neue Kunst, für Kunstmarkt und Sammelwesen — 8./​9.1926/​27

DOI Heft:
1./2. Märzheft
DOI Artikel:
Kurth, Betty: Ein nordischer Rennaissance-Bildteppich
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https://doi.org/10.11588/diglit.25876#0305

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Was schon beim ersten Eindruck auffällt, ist die
merkwürdige Verbindung von Einflüssen der hochent-
wickelten niederländischen Haute-lisse-Wirkerei mit
"Elementen uralter autochtoner Volkskunst, ein Gemisch
von klassischem Rationalismus mit abstrakter nordischer
Ausdruckskunst. Es handelt sich hier im Gegensatz zu
den naturalistischen Bildungen der niederländischen und
französischen Wirkereien um eine vielfach wirklichkeits-
fremde Auffassung der vegetabilen und zoomorphen
Formen. Es sind bloß Naturerinnerungen, umgeprägt
in ornamentale Werte.

In Deutschland, wo im 16. Jahrhundert fast aus-
schließlich niederländische Wirker die Manufakturen und
Werkstätten begründeten, dürfte dieser Zwitterstil kaum
heimisch gewesen sein. Wir müssen weiter nach Nor-
den wandern, um Vergleichsmaterial zu finden.

H. Grosch hat in seinen „Altnorwegischen Bildtep-
pichen“ zwei Werke der zweiten Hälfte des 16. Jahr-
hunderts veröffentlicht, die die engste Stil-Gemeinschaft
mit unserem Stück verbindet.7) Einen Teppich mit der
Gefangennahme einer Frau8) und einen Teppich mit
Abraham, Sarah und Hagar. Beide Stücke werden im
Museum zu Christiania verwahrt, der Teppich mit Abra-
ham, Sarah und Hagar ist 1575 datiert und stammt, altes
norwegisches Kirchengut, aus Hiterdal in Thelemarken.

Der Vergleich mit dem Teppich in Wien zeigt, daß
alle als bezeichnend erkamiten Eigentümlichkeiten hier
wiederkehren: Die breite Frucht- und Blumenbordüre,
die ihre Abstammung von der niederländischen Wirk-
kunst nicht verleugnen kann; die Verhärtung aller orga-
nischen Formen ins Ornamentale, Reste uralter Volks-
kunstgepflogenheit;9) die Farbenskala, in der gelbliche

7) Tafel 2 und 3.

8) Vielleicht Susanna mit den beiden Alten? Abb. in H.
Grosch, Altnorwegische Bildteppiche. Berlin 1901. Taf. 2.

9) Diese Umbildung der organischen Formen ins Ornamentale,

die, für die nordische Teppichwirkerei bezeichnend, im 17. Jahr-

hundert weitere Fortschritte macht, zeigt sich deutlich bei einer

und bräunliche Töne dominieren, und endlich eine Be-
sonderheit der Technik, die nicht wie bei der Mehrzahl
der anderen europäischen Gobelins mit Schlitzen und
Vernähungen arbeitet, sondern die Farbgrenzen sorg-
fältig mit einander verzahnt. Auch das Format ist bei
allen drei Stücken annähernd dasselbe.10)

Ein vierter Teppich, den ich hier anreihen möchte
und der jedenfalls derselben Gruppe zugehört, befindet
sich im Kloster zum heiligen Kreuz in Rostock. Er stellt
eine Szene aus der Geschichte der Esther dar und Sem-
rau hat ihn zusammen mit anderen Esther-Teppichen in
Helsingfors, Breslau und Greifswald, mit denen er im
Stil durchaus nicht übereinstimmt, auf eine Mecklenbur-
gische Werkstatt lokalisiert.11)

Demgegenüber hat Grosch die beiden Stücke in
Christiania auf Grund der Herkunft und Technik, der
Ausführung und des Materials als skandinavische, bezw.
norwegische Erzeugnisse angesprochen. Ist diese Be-
stimmung richtig, dann sind auch das Stück im Wiener
Kunsthandel und der Teppich in Rostock in Skandinavien
entstanden.

Tatsächlich erscheint der widerspruchsvolle Stil der
besprochenen Teppichgruppe, in der übernommene
Renaissance-Elemente sich mit der volkstümlichen Un-
diszipliniertheit nordischer Formenwildnis einen, im all-
gemeinen durchaus charakteristisch für die skandina-
vische Kunst des 16. Jahrhunderts, der die Renaissance
kein unentbehrlicher Werdensfaktor, keine notwendige
Entwicklungsphase, sondern. etwas Fremdes, Aufge-
pfropftes und mühselig Assimiliertes war.

1609 datierten Tapisserie in Schwedischem Museumsbesitz, die
durch die Inschrift in nordischer Sprache mit Sicherheit lokalisiert
ist. Abb. bei Böttiger, op. cit. III S. 23.

10) 1,50—1,86 breit, 2,30—2,50 m hoch.

n) Max Semrau, Vier neue Esther-Teppiche. Jahrbuch
des Schlesischen Museums fiir Kunstgewerbe und Alterttimer.
Bd. VI. Breslau 1912. Abb. S. 185.

Renaissance-Truhe (Toscana), 1. Hälfte 16. Jahrh.

Auktion der Berliner Sammlung Hugo Benario bei Rudolpli Lepke in Berlin

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