Donath, Adolph [Editor]
Der Kunstwanderer: Zeitschrift für alte und neue Kunst, für Kunstmarkt und Sammelwesen
— 8./9.1926/27
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https://doi.org/10.11588/diglit.25876#0459
DOI issue:
1./2. Juniheft
DOI article:Kern, Guido Josef: Die verschollene "Kreuztragung" des Hubert oder Jan van Eyck, [3]
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der Arbeit oder Rast, betrachtete; möglichst selbst un-
gesehen, damit sie ihre Unbefangenheit bewahrten, —
ein scharfer Beobachter individueller Eigenart.
Alle diese Züge, in denen die Aachener und die
Wiener Darstellung übereinstimmen, haben eine gemein-
same Quelle: Das Eycksche Original. Sie ergeben sei-
nen Sti-1. Nach alledem dürfen wir uns das Original vor-
stellen als ein Werk von stark primitivem Charakter,
durchsetzt mit naturalistischen, insbesondere naturali-
stisch-genrehaften Motiven. In dieser Verbindung von
archaischer Stilkunst und novellistischer Wirklichkeits-
kunst liegt ein Grundzug der frühen Eyckschen Malerei;
seine Erklärung geben die Miniaturen.
Die auffallendste Erscheinung im Bilde der „Kreuz-
tragung“, ja im ganzen Altar, ist der vom Rücken ge-
schene eilende Mann mit dem Kinde. Genau in der Mitte
der Haupttafel und damit der Gesamtkomposition ange-
ordnet, beherrscht diese genrehafte Gruppe das ganze
Werk. Nun konnten wir aber gerade für diese wich-
tigste Gruppe ein Vorbild in der „Miniatur“, nämlich in
den „Heures de Turin“ nachweisen. Der Einzelfall,
an sich schon belangvoll, gew'innt typisch-bedeutsamen
Charakter durch die Uebernahme einer zweiten Figur
Abb. 1. Jan Mostaert, „Kreuztragung“, Brüsseler Museum
über dem Aachener Bilde; ja, erreicht fast die Qualität
Eyckscher Originale, so daß man zuerst im Zwei-
fel sein kann, ob nicht eine Originalzeichnung vorliegt.
Diesen stilistischen Unterschieden, die dem Können
wie der persönlichen Art der Kopisten zuzuschreiben
sind, steht eine vo'lle Uebereinstimmung beider Kopien
in allen wesentlichen Zügen gegenüber. In beiden Arbei-
ten findet sich der steil ansteigende Vorder- und Mittel-
grund. In beiden, in der Zeichnung angedeutet, im Bilde
ausgeführt, der Felsen, der geologisch unmotiviert, wie
cine Kulisse der Mysterienbühne, unvermittelt aus der
Ebene aufragt. Beiden Kopien gemeinsam ist die räum-
lich unbeholfene Wiedergabe der Gestalten. Sie zeigt
sich einmal im Fehlen jeder Ueberschneidung der Mittel-
grundfiguren durch die Zuschauer im mittleren und rech-
ten Vordergrund; zeigt sicli ferner im Mangel jeder per-
spektivischen Größenabnahme. Eine charakteristische
Uebereinstimmung liegt weiterhin in den genrehaften
Gruppen des Vordergrundes. In beiden Kopien scheinen
sie abgesondert von dem eigentlichen Bildaufbau, in bei-
den konstrastieren sie durch zwanglose Haltung und
volkstümliche Tracht mit den Figuren des Kreuzigungs-
zuges. Die beideu Kopisten übernahmen hier die Dar-
stellung eines Meisters, dem es offenbar Ereude machte,
Eiguren aus dem Leben zu schildern; der mit dem Sldz-
zenbuch umherstreifte, um markanteTypen, Bürger und
Bauern, festzuhalten; der sie gern in ihrem Miiieu, bei
Abb. 2. Blick in cine Straße aus der „Verkündigung“
des Genter Altares
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gesehen, damit sie ihre Unbefangenheit bewahrten, —
ein scharfer Beobachter individueller Eigenart.
Alle diese Züge, in denen die Aachener und die
Wiener Darstellung übereinstimmen, haben eine gemein-
same Quelle: Das Eycksche Original. Sie ergeben sei-
nen Sti-1. Nach alledem dürfen wir uns das Original vor-
stellen als ein Werk von stark primitivem Charakter,
durchsetzt mit naturalistischen, insbesondere naturali-
stisch-genrehaften Motiven. In dieser Verbindung von
archaischer Stilkunst und novellistischer Wirklichkeits-
kunst liegt ein Grundzug der frühen Eyckschen Malerei;
seine Erklärung geben die Miniaturen.
Die auffallendste Erscheinung im Bilde der „Kreuz-
tragung“, ja im ganzen Altar, ist der vom Rücken ge-
schene eilende Mann mit dem Kinde. Genau in der Mitte
der Haupttafel und damit der Gesamtkomposition ange-
ordnet, beherrscht diese genrehafte Gruppe das ganze
Werk. Nun konnten wir aber gerade für diese wich-
tigste Gruppe ein Vorbild in der „Miniatur“, nämlich in
den „Heures de Turin“ nachweisen. Der Einzelfall,
an sich schon belangvoll, gew'innt typisch-bedeutsamen
Charakter durch die Uebernahme einer zweiten Figur
Abb. 1. Jan Mostaert, „Kreuztragung“, Brüsseler Museum
über dem Aachener Bilde; ja, erreicht fast die Qualität
Eyckscher Originale, so daß man zuerst im Zwei-
fel sein kann, ob nicht eine Originalzeichnung vorliegt.
Diesen stilistischen Unterschieden, die dem Können
wie der persönlichen Art der Kopisten zuzuschreiben
sind, steht eine vo'lle Uebereinstimmung beider Kopien
in allen wesentlichen Zügen gegenüber. In beiden Arbei-
ten findet sich der steil ansteigende Vorder- und Mittel-
grund. In beiden, in der Zeichnung angedeutet, im Bilde
ausgeführt, der Felsen, der geologisch unmotiviert, wie
cine Kulisse der Mysterienbühne, unvermittelt aus der
Ebene aufragt. Beiden Kopien gemeinsam ist die räum-
lich unbeholfene Wiedergabe der Gestalten. Sie zeigt
sich einmal im Fehlen jeder Ueberschneidung der Mittel-
grundfiguren durch die Zuschauer im mittleren und rech-
ten Vordergrund; zeigt sicli ferner im Mangel jeder per-
spektivischen Größenabnahme. Eine charakteristische
Uebereinstimmung liegt weiterhin in den genrehaften
Gruppen des Vordergrundes. In beiden Kopien scheinen
sie abgesondert von dem eigentlichen Bildaufbau, in bei-
den konstrastieren sie durch zwanglose Haltung und
volkstümliche Tracht mit den Figuren des Kreuzigungs-
zuges. Die beideu Kopisten übernahmen hier die Dar-
stellung eines Meisters, dem es offenbar Ereude machte,
Eiguren aus dem Leben zu schildern; der mit dem Sldz-
zenbuch umherstreifte, um markanteTypen, Bürger und
Bauern, festzuhalten; der sie gern in ihrem Miiieu, bei
Abb. 2. Blick in cine Straße aus der „Verkündigung“
des Genter Altares
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