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Donath, Adolph [Editor]
Der Kunstwanderer: Zeitschrift für alte und neue Kunst, für Kunstmarkt und Sammelwesen — 8./​9.1926/​27

DOI issue:
1./2. Juliheft
DOI article:
Riess, Margot: Käthe Kollwitz: Zum 60. Geburtstage der Künstlerin am 8. Juli
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.25876#0502

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der Zugang zu dem urlebendigen Schaffen unserer
Künstlerin vielen immer noch durch das Gespenst
„Tendenzkunst“ verschüttet. Man muß sicli eimnal
wieder daran erinnern, daß ja gerade die Kunst, vor
der wir heute mit besonderer Ehrfurcht stehen, die des
Mittelalters, als echte Tendenzkunst nicht nur einen
bestimmten Ideengehalt zu verdeutlichen hatte, son-
dern auch dazu bestimmt war, aufzurufen, zu mahnen,
auf ein außerhalb des Kunstwerkes Liegendes hinzu-
weisen, einem ethischen Zwecke diensbar zu sein. Eine
einzige gewaltige Armenbibel stellte ja diese Kunst
dar, den des Lesens Unkundigen sollten die Testamente
und Legenden an den Wänden und Pfeilern der Kirchen
deutlich faßbar und eindringlich gemacht wcrden. Somit
hatte der Künstler damals auch seinen festen Platz im
großen Gefüge des Ganzen, er wurde g e b r a u c h t,
Seite an Seite mit den Schöpfern der „rcalcn“ Wcrte,

Källie Kollwitz, SehbstbilcJnis mit der Hand an der Stdrn
Emil R'ichter Verlag, Dresden

den Handwerkern schuf er, was dem Volke geistiges
Brot bedeutete, war Diener an einem großen allgemei-
nen Werk. — Die einzigartige Stellung, die Käthe Koll-
witz im Kunstschaffen unserer Tage einnimmt, scheint
uns in der Analogie begründet, die zwischen ihrem
Werk und dem Schaffen der Künstler jener vergange-
nen Epochen besteht, denen der Luxus des l’art pour
l’art noch als Begriff fremd war. Auch ihr Werk ist
einer großen Biblia pauperum vergleichbar: in gewal-
tiger eindringlicher Sprache reden ihre Holzschnitte,
Radierungen, Lithographien, Handzeichnungen von den
Dingen die jedem begreifbar, eben durch die Wucht
ihrer Gestaltungen zum eigensten aufrüttelnden Erleb-
nisse werden: von Not, Tod, Abschied, dem Geschla-
gensein mit Dumpfheit, von Aufruhr, Empörung, Krieg,
Verzweiflung und Knechtschaft. Es ist die ewige
Legende der geknechteten, erlösungssüchtigen Menscli-
heit, die hier unter dem Bilde des notleidenden Prole-
tariates erzählt wird. Die Mutter, die in heißer Not ihr
sterbendes Kind an sich presst, der Mann, der im ge-

Käthe Kollwitz, Tod, Frau und Kind. Radierung
Emil Richter Verlag, Dresden

quälten Aufschrei die Arme emporwirft, Menschen, die
unter schwerer Last zusammenbrechen, der Tod, der
verlangend die Knochenhand nach dem lebendigen
Wesen ausstreckt, eine Frau, die in inbrünstigem Ver-
sunkensein in sich hineinbetet — sind es nicht alles
uraltc, immer wieder abgewandelte Themen der dar-
stellenden Kunst, die hier neu durchlebt und umgedeu-
tet wurden? Das ist keine abseitige proletarische
Kunst, es ist der Heldengesang der arbeitenden und

Kätlic Kollwitz, Das Elend
Ausstellung bei J. Elinrichsen, Berlin

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