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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 1.1925-1926

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Scheffler, Karl: Vergangenes und Zukünftiges
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https://doi.org/10.11588/diglit.13211#0238

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revolutionär aber fühlten alle, alle such-
ten Formen, die nicht von schon geschicht-
lich gegebenen Formen abgeleitet waren,
sondern die unmittelbar wieder aus dem
Triebleben stammten. Allen gemeinsam war
die Witterung dafür, daß sich das bürger-
liche Zeilalter des neunzehnten Jahrhun-
derts einem Abschluß näherte, daß ein neuer
„contrat social" notwendig war, daß neue
Wirtschaftsformen nach Verwirklichung
drängten, daß dieser Gestaltwandel ein tief-
gehender Kulturwandel sein und sich not-
wendig aucli in Kunstformcn darstellen
müsse. Der Künstler wollte wieder einmal,
wenn auch in absonderlicher Weise, pro-
phetisch sein.

Eben dieses wurde den Führern dann zur
Gefahr. Sie griffen zu weit vor, den schwei-
fenden Ideen widersetzten sich die greif-
baren Wirklichkeiten, woran die Künstler
im Gewerbe und in der Kunstindustrie ge-
fesselt waren. Es fehlten noch die konkre-
ten Aufgaben, woran die radikale Formge-
sinnung und der drängende Stilwille sich
hätte erproben können. Bauaufgaben mo-
derner Art waren noch nicht häufig. Das
Warenhaus, das Geschäftshaus, der Indu-
striebau, die neuen Konstruktionsverfahren,
die neuen Baumaterialien: das alles war erst
in Anfängen da. Fand sich aber eine neu-
artige Aufgabe, so wurde sie meistens in die
Hände von „bewährten" Polytechnikcrn
und Akademikern gelegt. Die Pioniere
mußten ihre Phantasie zunächst erproben
innerhalb des alten Aufgabenkreises des
Kunstgewerbes, sie mußten für die Töpfe-
rei, Weberei, bestenfalls als Möbeltischler
arbeiten. Es mußte sich eine Bewegung, die
gedanklich aufs Große, eigentlich aufs
Größte ging und die die Gesamtheit der bil-
denden Künste umspannen wollte, die die
Idee eines „neuen Stils" hegte, mit der Her-
stellung von kunstgewerblichen Gegenstän-
den des Tagesgebrauchs, bestenfalls eines
veredelten Komforts begnügen; sie war ge-
bannt in einen viel zu engen Lebensraum.
Die Folgen dieses Mißverhältnisses waren
sehr merkwürdig. Sie zeigten sich darin,
daß die ehrgeizig ein Zukünftiges durch-
grübelndcn Künstler, die vom Gewerbe
nicht hinreichend beschäftigt werden konn-
ten, ihren bildenden Instinkten auf dem
einzigsten Gebiet rein geistiger Produktion,

das ihnen blieb, im Ornament, eine Betäti-
gung suchten, daß sie sich bemühten, in das
Ornament alle brachliegende, noch unge-
reifte Phantasie zu tragen und das ganz we-
sentlich Gemeinte am ganz Überflüssigen zu
demonstrieren. So ist das Jugendstil-Orna-
ment entstanden, mit allen seinen Abnor-
mitäten, in all seinem Naturalismus, in all
seiner Abstraktionslust, mit seinem Span-
nungsüberfluß und Konslruklionssymbolis-
mus. In der Arabeske entlud sich ein leiden-
schaftlicher Motivationsdrang, es war darin
bis zum Übermaß, bis zum Unerträglichen
ein Greifen, Klammern, Steigen, Fallen,
Stützen, Stoßen, Rahmen oder Schwellen.
In jedem Buchzierat war etwas von jenem
Geist, der sich lieber in einem Gerüst neu-
artiger Architekturen manifestiert hätte. Im
kleinsten Ornament war Zwecknaturalis-
mus, war symbolisierte Kausalität. Das hat
das Jugendstil-Ornament sehr eigenartig,
gewerblich jedoch nicht eben brauchbar
hat es in den Händen Unbegabter wahrhaft
fürchterlich gemacht. Das hat dem ganzen
Stil ein kurzes Leben beschieden. Der Wi-
derstreit zwischen Denken und Tun war zu
groß. Van de Velde verkündete lapidar:
„Die Linie ist eine Kraft." Ihm schwebte
dabei neue Erkenntnis alles Architektoni-
schen vor. Endeil untersuchte profund die
Ausdrucksfähigkeit jeder Linie und fun-
gierte gewissermaßen als Graphologe der
Handschrift eines neuen Stils. Jedes Or-
nament war wie ein Embryo. Über das
Embryonale aber kam kaum einer schon
hinaus. In einer Festrede habe ich, der von
Anfang an tätig in der Bewegung gestanden
hatte, zu van de Velde einmal folgendes ge-
sagt:

„Es ist möglich, wenn Ihr, wenn unser aller
Traum von einer neuen Klassizität einmal
Wahrheit werden sollte, daß dann von Ihren
Formen unmittelbar nichts in die neue Kunst
übergeht. Aber Sie werden selbst in diesem
Fall nicht umsonst geschaffen haben und
bleiben, der Sie sind. Immer werden Sie es
sein, der die neue Vernunft mit eingeleitet
hat, der die Vorurteile erschüttert, den Wil-
len ermutigt, die Feigheil bekämpft und
Grundbegriffe gelegt hat. Was nie wieder
verloren gehen kann und fortwirkend sich
im Ewigen verlieren wird, das ist der mäch-
tige Impuls, den Sie der ganzen europäischen

Welt gegeben haben.........

Wir wissen nicht, wie wir Sie mit einem

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