Der einfluss der Grossindustrie
auf die formung unserer zeit
VON PROF. RICHARD RIEMERSCHMID, KÖLN
i mm er klingt in unserer Zeit, auch wenn
man mit verständigen und einsichtigen Men-
schen über die Beziehungen zwischen indu-
strieller und wirtschaftlicher Arbeit einer-
seits und künstlerischer Arbeit andrerseits
spricht, die Überzeugung durch von einem
wesentlichen, einem unverrückbaren Ge-
gensatz. Ich möchte dagegen betonen: Es
ist ja gar nicht so, die rechte Art wirtschaft-
licher und die rechte Art künstlerischer Ar-
beit stehen sich ja nah und gleichen sich
viel mehr, als im allgemeinen angenommen
wird. Nicht Gegensätze, unlösbare Gegen-
sätze, es sind verschiedenartige Äußerungen
desselben Strebens, desselben Triebs zu wir-
ken und zu schaffen, hinter denen eben ver-
schieden gerichtete Persönlichkeilen stehen.
Wie kommt es denn eigentlich, daß die
Werke, die aus hochstehenden Zeiten ein
günstiges Schicksal uns erhalten hat, ganz
gleich, was sie darstellen und ganz gleich,
wo sie stehen, im fernsten Asien, in Ägyp-
ten, in Italien, in Deutschland, daß alle
diese Werke großer vergangener Kulturen
für unser Empfinden Kunstwerke sind, die
Tempel wie die Festungen, die Paläste wie
die Brücken, die Wehrbauten wie die Fest-
bauten, die Wasserleitungen wie die Grab-
mäler. Das geht noch weiter, geht bis zu
den Gebrauchsgegenständen, zu den nüch-
ternsten Gebrauchsgegenständen herunter:
Wenn wir in unseren Sammlungen vor
ihnen slehen, sehen wir Kunstwerke. Woher
kommt das? Damals war gestaltende Kraft
überall tätig! „Künstler" war nicht ein be-
sonderer Beruf, sondern eine Fähigkeil, die
sich betätigte, wo ein unverdorbener Sinn
sie brauchte. Ein Lionardo und ein Dürer
haben mit demselben Ernst und derselben
Liebe auch an Maschinen und Festungsbau-
ten ihre Gestaltungskraft anwenden wollen
Vortrag gehalten auf der Jahresversammlung des
Deutschen Werkbunds in Essen am Juni 1926
1 und unter allen deutschen Künstlern der
größte, Goethe, hat als letzte Erfüllung
allen Menschenstrebens technische Leistun-
gen gepriesen. Es sind nicht Widersprüche,
i die unvereinbar in der Sache stecken; der
i peinliche Gegensatz, der heute nicht weg-
zuleugnen ist, stammt woanders her. Ein
i Mangel an formender Kraft besteht neben
einer Fülle verstandesmäßig erfindender
Kraft. Oft ist diese erfindende Kraft so
l üppig, so massenhaft emporgewachsen, daß
daneben die formende Kraft erstickt wor-
den ist. Wir haben verlernt zu glauben an
die Möglichkeit, daß sie nebeneinander ge-
deihen können, sogar nebeneinander ge-
deihen müssen, wenn gesunde und hohe Lei-
stungen entstehen sollen. Groß ist eben „die
menschliche Fähigkeit, gerade das Unver-
geßliche zu vergessen."
Ich möchte betonen: Wir sprechen heute
von der Großindustrie, von den großen
technischen Leistungen, wie sie weiterge-
bildet und wirtschaftlich ausgewertet wer-
den. Wir sprechen nicht vom künstleri-
schen Handwerk. Wir sprechen nicht von
dem industrialisierten Handwerk. Heute ist
ja alles Handwerk, was mit Massenerzeu-
gung zu tun hat, entweder industrialisiert,
mehr oder weniger, oder ein absterbender
Überrest.
Wir sprechen von der führenden und ge-
wichtigsten Industrie und wir sprechen von
ihren führenden und gewichtigsten Män-
nern. Es waren Zeiten, wo die führende
Macht die Kirche war, und es waren Zeiten,
wo die führende Macht die Könige und Für-
sten waren. Es ist überflüssig, ausführlich
darzulegen, wie diese Zeiten ihre hohe Auf-
gabe aufgefaßt und wie sie sie gelöst haben.
Herrlichkeiten haben sie hinterlassen, die
auf die formung unserer zeit
VON PROF. RICHARD RIEMERSCHMID, KÖLN
i mm er klingt in unserer Zeit, auch wenn
man mit verständigen und einsichtigen Men-
schen über die Beziehungen zwischen indu-
strieller und wirtschaftlicher Arbeit einer-
seits und künstlerischer Arbeit andrerseits
spricht, die Überzeugung durch von einem
wesentlichen, einem unverrückbaren Ge-
gensatz. Ich möchte dagegen betonen: Es
ist ja gar nicht so, die rechte Art wirtschaft-
licher und die rechte Art künstlerischer Ar-
beit stehen sich ja nah und gleichen sich
viel mehr, als im allgemeinen angenommen
wird. Nicht Gegensätze, unlösbare Gegen-
sätze, es sind verschiedenartige Äußerungen
desselben Strebens, desselben Triebs zu wir-
ken und zu schaffen, hinter denen eben ver-
schieden gerichtete Persönlichkeilen stehen.
Wie kommt es denn eigentlich, daß die
Werke, die aus hochstehenden Zeiten ein
günstiges Schicksal uns erhalten hat, ganz
gleich, was sie darstellen und ganz gleich,
wo sie stehen, im fernsten Asien, in Ägyp-
ten, in Italien, in Deutschland, daß alle
diese Werke großer vergangener Kulturen
für unser Empfinden Kunstwerke sind, die
Tempel wie die Festungen, die Paläste wie
die Brücken, die Wehrbauten wie die Fest-
bauten, die Wasserleitungen wie die Grab-
mäler. Das geht noch weiter, geht bis zu
den Gebrauchsgegenständen, zu den nüch-
ternsten Gebrauchsgegenständen herunter:
Wenn wir in unseren Sammlungen vor
ihnen slehen, sehen wir Kunstwerke. Woher
kommt das? Damals war gestaltende Kraft
überall tätig! „Künstler" war nicht ein be-
sonderer Beruf, sondern eine Fähigkeil, die
sich betätigte, wo ein unverdorbener Sinn
sie brauchte. Ein Lionardo und ein Dürer
haben mit demselben Ernst und derselben
Liebe auch an Maschinen und Festungsbau-
ten ihre Gestaltungskraft anwenden wollen
Vortrag gehalten auf der Jahresversammlung des
Deutschen Werkbunds in Essen am Juni 1926
1 und unter allen deutschen Künstlern der
größte, Goethe, hat als letzte Erfüllung
allen Menschenstrebens technische Leistun-
gen gepriesen. Es sind nicht Widersprüche,
i die unvereinbar in der Sache stecken; der
i peinliche Gegensatz, der heute nicht weg-
zuleugnen ist, stammt woanders her. Ein
i Mangel an formender Kraft besteht neben
einer Fülle verstandesmäßig erfindender
Kraft. Oft ist diese erfindende Kraft so
l üppig, so massenhaft emporgewachsen, daß
daneben die formende Kraft erstickt wor-
den ist. Wir haben verlernt zu glauben an
die Möglichkeit, daß sie nebeneinander ge-
deihen können, sogar nebeneinander ge-
deihen müssen, wenn gesunde und hohe Lei-
stungen entstehen sollen. Groß ist eben „die
menschliche Fähigkeit, gerade das Unver-
geßliche zu vergessen."
Ich möchte betonen: Wir sprechen heute
von der Großindustrie, von den großen
technischen Leistungen, wie sie weiterge-
bildet und wirtschaftlich ausgewertet wer-
den. Wir sprechen nicht vom künstleri-
schen Handwerk. Wir sprechen nicht von
dem industrialisierten Handwerk. Heute ist
ja alles Handwerk, was mit Massenerzeu-
gung zu tun hat, entweder industrialisiert,
mehr oder weniger, oder ein absterbender
Überrest.
Wir sprechen von der führenden und ge-
wichtigsten Industrie und wir sprechen von
ihren führenden und gewichtigsten Män-
nern. Es waren Zeiten, wo die führende
Macht die Kirche war, und es waren Zeiten,
wo die führende Macht die Könige und Für-
sten waren. Es ist überflüssig, ausführlich
darzulegen, wie diese Zeiten ihre hohe Auf-
gabe aufgefaßt und wie sie sie gelöst haben.
Herrlichkeiten haben sie hinterlassen, die