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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 1.1925-1926

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Zeit- und Streitfragen
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https://doi.org/10.11588/diglit.13211#0320

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ZEIT- UND STREITFRAGEN

Neue Sachlichkeil —

nur Anton v. Werner-Renaissance?

Wenn etwas gut gesagt ist, soll man nichts mehr
hinzufügen. Dennoch glaube ich die Wirkung des
Artikels von Adolf Behne (Heft 6 der „Form'''
S. i3o) nicht abzuschwächen, wenn ich seine
Denkanregungen aufnehme, weiterspinne und so
zu neuer Erkenntnis gelange.

Definieren wir den Begriff der Sachlichkeit in der
neueren Kunst als einen Reinigungsprozeß des
menschlichen Geistes von erblichen Belastungen
— Stichwort: l'art pour l'art — so will alle neu-
zeitliche Kunst, selbst die mystifizierende, auf ihre
Art sachlich sein. Wie weit sie es wirklich ist und
wie weit nur sächlich bzw. nebensächlich, bleibe
dahingestellt.

Die frühere Kunst wollte in erster Linie mensch-
lich sein, wie weit sie es wirklich war, wie weit
nur konventionell, bleibe ebenfalls dahingestellt.
Aber die tiefste Kraftquelle der Michel Angelo,
Velasquez, Grünewald war der ungeheure Druck,
unter dem ihr Menschliches zeitlebens hat stehen
müssen. So war damals die Kunst das Ventil für
die Not der Seele. Die Humanität rettete sich aus
Inquisilion und Folterqualen in die Sphäre der
Kunst. Das Jüngste Gericht Michel Angelos: die
Apotheose des Menschen.

Je aufgeklärter das Zeitalter wurde, je mehr der
Druck, der auf der Menschheit lastete, nachließ,
je mehr Menschlichkeit ins Leben zurückströmte,
desto sachlicher wurde die Kunst. Riefen früher
die Künstler entmenschten Zeitgenossen ihr „Ecce
homo" zu, so wurde in letzter Zeit das menschliche
Gemüt in der Kunst völlig ausgeschaltet und die
Entleerung des nicht mehr echten Gefühlsinhalts
als Gewinn gebucht. Das Unvermeidlich-Mensch-
liche wird seiner Illusionen entkleidet und ganz
sachlich als Erotik in Reinkultur dargeboten.
Manchmal dient auch heute die Kunst als Ventil,
aber weniger für die unterdrückte Menschlichkeit
als für jenen Rest dunklen Triebwesens, der in
der bürgerlichen Humanitätsformel nicht auf-
gehen will. Das alles geschieht noch vor dem Ein-
setzen der „Neuen Sachlichkeit".
Also stellen wir fest: Die Kunst wurde entmensch-
licht und versachlicht.

Vor der Schwelle der neuen Zeit finden wir als
letztes Zerfallsprodukt der alten menschlichen
Kunst die gegenständliche Malerei des Anton von
Wernerstiles. Diese ist rein negativ: Die Mensch-
lichkeit Menzels wird zur Phrase, die Sachlichkeit

Manets noch nicht erfaßt, also: völlige Impotenz,
ohne Eros und ohne Logos — Kitsch.

Ist nun bei den Künstlern der Neuen Sachlich-
keit die Situation wirklich eine ähnliche? Auch
diese Kunst ist auf der einen Seite virtuos, auf der
andern beklemmend. Nur liegt bei Anton von
Werner der Ton noch auf dem Menschen, er-
reicht wird aber nur seine äußere Erscheinung,
bei den anderen liegt der Ton der Verneinung
des Menschen und diese wird zweifellos erreicht —
die Köpfe sind bis zur Grausigkeit entseelt, der
Mensch zur Sache unter Sachen geworden. In
beiden Fällen Menschen ohne Seele, nur mit dem
Unterschiede: A. v. Werner erstrebt dieses Ziel
durchaus nicht, während Otto Dix es mit fana-
tischer Konsequenz erstrebt und auch erreicht.

Was aber die künstlerische Form betrifft, um die
es sich bei der Sachlichkeit im eigentlichen Sinne
ja handelt, so scheint mir zwischen dem Witwen-
schleier des Otto Dix und dem gewichsten Stiefel
Anton von Werners doch ungefähr noch der
gleiche Abstand zu liegen wie zwischen den Ge-
wändern Boticellis und der gebauschten Seide des
Tiepolo. (Ich muß hier allerdings zugeben, daß
ich von den Vertretern der neuen Sachlichkeit nur
Otto Dix kenne, die eigentliche Mannheimer Aus-
stellung habe ich nicht gesehen, darum äußere ich
diese Gedanken ohne jeden Anspruch auf Un-
fehlbarkeit.)

Vielleicht ist aber der Vergleich der „Neuen Sach-
lichkeit" mit dem Quattrocento nicht ganz von
der Hand zu weisen, war doch auch die damals
verflossene Kunst ein Ringen um die bis zum
Kubistischen gesteigerte Form gewesen wie der
Expressionismus, und mir scheint, als ob die Köpfe
Mantegnas oder Multschers den neuesten Köpfen
gar nicht so unähnlich sehen. Auch wirkt Boti-
celli eigentlich durchaus in modernem Sinne
„sachlich'' bis zur Reinerotik seiner Frauengestal-
ten. Vielleicht bewegt sich die neue Linie von der
kubistischen Formel wie damals vom byzantini-
schen Schema in aufsteigender Kurve wieder em-
por zum Menschen, um den wir ja — mögen wir
auch ohne Gott noch fertig werden — nicht gut
herumkönnen. Die „.Entmenschlichung der
Kunst" — ein Spanier soll unter diesem Titel be-
reits ein Buch geschrieben haben — ist ebenso
wie der Begriff „sachliche Kunst" in seiner letz-
ten Konsequenz eine contradictio in adjecto, und
vielleicht wird es nicht mehr lange dauern und
nicht einzelne, sondern Tausende blicken wieder
zum Parthenonfries auf. Paul Kunze

VERANTWORTLICH FÜR DEN INHALT: DR.-ING. WALTER CURT BEHRENDT, BERLIN W35

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