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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 1.1925-1926

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Scheffler, Karl: Vergangenes und Zukünftiges
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https://doi.org/10.11588/diglit.13211#0242

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dagegen kennen den Begriff Kunstgewerbe
überhaupt nicht mehr, sie interessieren sich
nicht mehr für Töpfe, Gewebe, Metallarbei-
ten usw.; sie erstreben Bauformen, die von
selbst alle Gewerbe und Industrien durch-
dringen, sie wollen einen Stil, der das ganze
Hausgerät zugleich mit dem Haus umbildet.
Ihnen schweben Gebrauchsgegenstände vor,
die etwa so aussehen wie ein guter Telephon-
apparat, ein gut geformtes Automobil, ein
solider Reisekoffer, ein sorgfältig gearbei-
teter Anzug, ein zweckmäßig gebauter Stra-
ßenbahnwagen, Gegenstände also, die mit
dem Begriff Kunstgewerbe nichts mehr zu
tun haben, alles aber mit der modernen
Technik und mit der reinlich „erledigten
Form". Auch insofern endlich unterschei-
den sich die heutigen von den Führern der
vorigen Generation, als sie sich zwar als
Vollstrecker eines Zeitwillens fühlen, auf
Persönlichkeit und Originalität aber wenig
Wert legen. Sie sind in Wahrheit nicht so
begabt wie ihre Vorgänger, nicht so feurig
und anregend; um so mehr erstreben sie
Strenge der Arbeitsweise, Sachlichkeit der
Gesinnung, Aufgehen im sozial Allgemei-
nen, Eigenschaften also, die das, was ihnen
fehlt, wett machen. Die Betonung des indi-
viduell Einmaligen wäre heute nicht recht
am Platze. Die neue Baukunst will bildend
sein, ehe sie schön sein kann, sie will die-
nen, um zur Herrscbaft zu kommen. Die
jungen Architekten fühlen sich als Beauf-
auftragle eines Gesamtwillens. Sie sind
Romantiker nur in einem übertragenen, in
einem kollektiven Sinn. Natürlich hängt
letzten Endes wieder Entscheidendes von der
Begabung ab. Auf die persönlichen Talente
gilt es aber geduldig zu warten. Sie können
nicht herbeigezwungen werden, sie werden
wahrscheinlich aber da sein, wenn sie ge-
braucht werden.

Die Führer des Jugendstils meinten ein
Ganzes, doch konnten sie es kaum schon be-
zeichnen; die Generation von heute meint
auch ein Ganzes — dasselbe Ganze —, doch
ist die Zeit inzwischen, durch den Krieg, so
zur Selbstbesinnung gezwungen worden, daß
die Gestalter die einzelnen Aufgaben be-
arbeiten können, als seien es Teile dieses
großen Ganzen. Was vor dreißig Jahren
noch Utopie war, ist in greifbarere Nähe
gerückt. Der architektonisch Schaffende

fühlt sich nicht nur verantwortlich für seine
Spezialarbeit, sondern gewissermaßen auch
für die Lebensauffassung seiner Zeit. Er
weiß, wie sehr der Grundriß ein Abbild so-
zialer Lebensformen ist, weiß, daß sich im
Serienbau ein demokratisches Prinzip aus-
spricht, daß die Gestalt der Städte den
Geist der Völker und den Grad ihres Glau-
bens an sich selbst ausdrückt, daß Wohnen
eine Lebensfunktion ist, und daß jeder Bau-
stil zu den umfassendsten und größten Sym-
bolen des menschlichen Geistes gehört. Er
weiß, daß die Baulüge viele Lügen im Ge-
folge hat, und daß nur die Völker und Bas-
sen stark sind, die sich zu ihrer Eigenart, zu
ihren Bedürfnissen, zu ihren Instinkten frei
bekennen.

Es wäre von großem Reiz, an der Hand ver-
gleichender Abbildungen zu zeigen, inwie-
fern die jungen Architekten auch im einzel-
nen auf den Schultern ihrer Vorgänger
stehen — in Deutschland, Holland, Frank-
reich, in ganz Europa eigentlich. Im vor-
liegenden Falle würde es zu weit führen.
Diese Untersuchungen mögen den Fachleu-
ten überlassen bleiben. Diese mögen auch
mitteilen, inwiefern die neue Form, die sich
herausbilden will, notwendig europäischen
Charakter tragen muß, und welcher Art die
Störungen und Gewaltsamkeiten sind, die
noch durch Abstraktion und Tendenz her-
vorgerufen werden. Die nächsten Jahre
werden wahrscheinlich voll sein von solchen
Erörterungen. Denn es ist unwahrschein-
lich, daß die Idee des „neuen Stils" zum
zweiten Male von einem bequemen Eklekti-
zismus verdrängt wird. Ein Kompromiß ist
freilicli auch jetzt wieder möglich; doch
wird es wohl nicht die Kraft haben, das
Neue auch nur zeilweise ganz zu unter-
drücken. Der Krieg hat alles in ein neues
Licht gerückt. Zu viele sind jetzt daran in-
teressiert, daß das Leben mit sich selbst in
Übereinstimmung komme und bleibe. Diese
werden dem Architekten helfen, der keinen
andern Ehrgeiz hat als den, ein Diener des
großen geschichtlichen Gestaltwandels zu
sein, ein sich selbst mit Verantwortung Be-
lastender und eben darum ein Bestimmen-
der, ein Vollstrecker fälliger Bedürfnisse
und ein Künstler insofern, als er die Not-
wendigkeit zur Freiheit und damit zu einer
neuen Schönheit erhebt.

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