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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 1.1925-1926

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Zeit- und Streitfragen
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https://doi.org/10.11588/diglit.13211#0287

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wesentlich auch einmal ganz wegzulassen, so beugt
er doch allzu einfach die Talsachen. Denn ich
bin nicht nur „auf die Idee gekommen", das Or-
nament ganz wegzulassen, sondern habe diese Idee
bei weitaus den meisten meiner Bauten durchge-
führt. Es ist sicher niemand verpflichtet, meine
Bauten zu kennen, aber wenn man über sie öffent-
lich etwas sagt, sollte man doch wohl auch die
Verantwortung dafür übernehmen können. Aber
diese Beugung der Talsachen zieht sich durch den
ganzen Aufsalz. So sucht er den Eindruck zu er-
wecken, als wäre ich für jenen Klassizismus ein-
getreten, der den italienischen Palastbau als ein-
ziges Vorbild für unser Bauen ansah, eine Auf-
fassung, der ich nicht allein in dem „Uhu"-Auf-
salz entgegentrat, sondern die ich auch mein gan-
zes Leben lang in Wort und Bild als kalten For-
malismus bekämpfte.

Mein Herr Gegner gibt zu, daß die Rhythmisie-
rung und Harmonisierung nicht durchaus neu von
seiner Gruppe erfunden sei. Da Rhythmus und
Harmonie Mittel der Baukunst sind, solange es
eine solche gibt, ist die Heranziehung beider auch
belanglos.

Dafür läßt er seine Forderung an das Bauwerk in
dem Ausspruch gipfeln, daß es eine Leistung für
das Leben sein müsse. Was mit dieser über-
raschend neuen Feststellung hier ausgedrückt sein
soll, ist mir allerdings schlechthin unverständlich.
Es ist doch wohl mehr als selbstverständlich, daß
eine jede brauchbare Handlung eine Leistung für
das Leben sei.

In diesem Sinne bedeutet ein gutes Bauwerk ein
Kleid zu schaffen, das sich einer menschlichen
Existenz auf das vollkommenste anschließt.
Und so gibt es eben Leute wie mich und andere,
denen unser Kleid gemäß ist. Es mag sein, daß
es auch solche gibt, die sich in jenen asiatischen
Häusern wohlfühlen. Irgend ein Werturteil über
diese beiden ist aber in dieser Feststellung selbst
doch nicht enthalten. Die Wahl zwischen Hüben
und Drüben müssen wir wohl beide der Zukunft
überlassen. Paul Schultze-Naumburg

*

Schlußwort der Schriftleitung;
Darin bat Herr Schultze-Naumbun; recht: nicht
um irgendwelche Werlurteile handelt es sich
in dieser Auseinandersetzung —, die können wir
getrost einer ruhigeren Zukunft überlassen: son-
dern um eine Bekenntnisfrage, um die innere
Einstellung zu den Geslaltungsproblemen unserer
Zeil. In dieser Frage allerdings gilt es, sich
gegenwärtig und ohne Vorbehalt zu entscheiden
zwischen Hüben und Drüben, und, wenn es sein
muß, auch gegen alte und ehrwürdige Tradi-
tionen.

Steht die Bedeutung der Tradition zur Debatte,
so soll11' man zunächst über den Begriff der
Tradition eine Verständigung suchen. Herr Sch.-
N. wiid darin mit uns einig sein, daß unter
diesem Begriff nicht das ehrwürdige Erbe fertig
überlieferter Kunstformen zu versieben ist.
Gleichwohl, deuten nicht gerade seine praktischen

Bestrebungen zur Wiederbelebung der heimi-
schen Tradition in diesem Sinne auf eine betont
formalistische Auslegung dieses Begriffes hin?
Die von Sch.-N. inaugurierte, inzwischen
längst historisch gewordene Biedermeier-Renais-
sance war, wie ihr Schicksal zeigt, nicht Wieder-
belebung einer bodenständigen Tradition, sondern
eine lelzte Elappe des klassizistischen Eklek-
tizismus. Und dieser vergebliche Vorsuch be-
wies einmal mehr, daß abgestorbene Überliefe-
rungen sich nicht wieder lebendig machen lassen.
Und läßt es nicht abermals auf eine einseitig
formalistische Auffassung des Traditions-
begriffes schließen, wenn Sch.-N. jetzt jene neuen
Häuser — die er als die Werke einer „kleinen
Gruppe" kennzeichnet, deren Mitglieder sich „für
die Vertreter der Menschheit halten", die uns
dagegen als Ausdruck eines sehr eindeutigen und
einheitlichen Formtriebs gellen —, wenn er
diese Häuser um äußerer formaler Merk-
male willen (von denen übrigens zumin-
dest das flache Dach auch den Bauten des
bodensländigen Klassizismus eignet) als tradi-
tionslos empfindet und als „asiatisch" brand-
markt? Spürt der verdiente Verfasser der
„.Kulturarbeiten" nicht, daß dieser Forni-
trieb eine unverkennbare Verwandtschaft
aufweist mit jenem Formtrieb, der die
Brücken, Silos, Fabriken und Hochöfen
geschaffen und das Gesicht jener neuen Kultur-
landschaft geprägt hat, die er uns im 7. Bande
seines Werkes so anschaulich schildert? Deutet
diese Verwandtschaft nicht darauf hin, daß hier
ein neues Formeefühl, und das heißt doch nichts
anderes als eine neue Tradition, im Ent-
stehen begriffen ist? Herr Sch.-N. erläutert
den Begriff der Bautradition mit einem an-
schaulichen Bilde, indem er sie als „unser er-
weitertes Elternhaus" bezeichnet. Er wird aber
zugeben müssen, daß sich auch die Tradition
des Elternhauses, das für viele unserer Volks-
genossen heute nur noch aus einem heizbaren
Zimmer besteht, in unserer Zeit von Grund
aus gewandelt hat: wie sollte dieser Wandel
nicht auch unser „erweitertes Elternhaus" er-
greifen?

Nach dem ewigen Gesetz des „Stirb und Werde"
gehen alte, sinnlos gewordene Traditionen zu
Grabe, neue bilden sich an ihrer Statt. Die
Entstehung solcher neuen Traditionen erleben
wir heute, und aus ihnen sehen wir neue Gestalt-
formen sich entwickeln, Formen, die uns durch
ihre neue Wesensart vielfach noch fremdartig
anmuten, die aber gleichwohl ein lebendiger Aus-
druck unserer veränderten Wirtschafts-, Lebens-
und Gesellschaftsformen sind. Ob freilich der
Träger dieser neuen Tradition künftig noch der
Bürger sein wird, ob diese Tradition füglich
auch weiterhin eine bürgerliche wird sein
können, diese Frage zu beantworten, möchten
wir vorsichtigerweise ebenso der Zukunft über-
lassen, wie das Werturteil darüber, ob diese neue
Tradition gut oder böse zu nennen ist. W. C. B.

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