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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 1.1925-1926

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Fischer, Hans W.: Der Neue Tanz in seiner symptomatischen Bedeutung
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https://doi.org/10.11588/diglit.13211#0354

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Ein Geist regiert alle Erscheinungen dieser
Zeit, von der Allongeperücke bis zum
Alexandriner.

Nur diese stilistische Unbeirrbarkeit ermög-
lichte es der Ballettkunst, sich ■ einen so
festen, bis ins kleinste Detail einheitliehen
Formenschatz zu schaffen, daß er sich allen
neuen Anläufen gegenüber unzerstörbar
erwies. Während sich der Zusammenhang
der Künste untereinander und schließlich
auch mit einer bestimmten Zeit immer mehr
lockerte, so daß von einem gewachsenen
Stil nicht mehr die Rede sein konnte und
schließlich auf der ganzen Linie der Eklek-
tizismus herrschte, blieb die Ballettkunst
unbeirrt ihrer ursprünglichen Art treu.
Dank ihrer ungemein, ja raffiniert ausge-
bildeten Technik vermochte sie, alle Tanz-
formen eines neuen Temperaments — den
Walzer so gut wie den Cancan, dieNätiönal-
tänze aller Völker — sich selbst anzuglei-
chen. Freilich sank allmählich die Qualität
des Balletts, je mehr sein natürlicher Boden
unter ihm wich. Aber da, wo es sich stabil
hielt, am absolutistischen russischen Hof,
hielt auch das Ballett seine Höhe. Nachdem
diese letzte Zuflucht zusammenbrach, ist
sein Schicksal endgültig besiegelt. Auch die
herrlichsten Endleistungen, deren Zeugen
wir selbst sind, können nur noch als Reste
und Nachzügler gelten. Wir freuen uns
ihrer Schönheit, aber mit einer gewissen
Melancholie: denn sie haben keine Zukunft
mehr.

Es war ein ganz richtiges und gesundes Ge-
fühl, was um die Jahrhundertwende die
Pioniere einer neuen Tanzkunst gegen die
Herrschaft des Balletts revoltieren hieß:
Auflehnung eines neuen Lebensgcfühls
gegen den Zwang ererbter und überalterter
Form. Allerdings handelte es sich um eine
große, geschlossene Form, der die Aufrüh-
rer zunächst nichts entgegenzusetzen hat-
ten, was gleiche Allgemeingültigkeit bean-
spruchen durfte. Es waren rein individua-
listische Vorstöße, die hier geführt wurden,
Versuche einzelner tänzerisch zum Teil
hochbegabter Naturen, sich einen eigenen
Tanzstil zu schaffen. Auf diesem Wege
waren zweifellos schöne Leistungen mög-
lich, aber immer nur auf einer verhältnis-
mäßig schmalen Basis. Es ist charakteri-

stisch für dieses Stadium, daß es nur die
Einzeltänzerin kannte und als ihre Stätte das
Podium. Diese Bewegung, obwohl zeitweise
von der Mode begünstigt, war zum Ver-
kümmern verdammt, wenn es nicht gelang,
sie auf eine breite Grundlage zu stellen, sie
aus ihrer Isoliertheit zu befreien und mit
dem Ganzen der Kunst und des Lebens in
Einklang zu bringen. Was bisher gelungen
war, war allenfalls Lösung von alter Form;
nun galt es, von der Lösung zu neuer Bin-
dung zu gelangen.

Genau dazu aber war die Zeit inzwischen
reif geworden. Auf allen Gebieten, in der
Gesellschaft wie in der Kunst, begann man
jetzt eben zu erkennen, daß der Kampf
gegen inhaltlos gewordene Konventionen
nicht durch noch so kühne Durchbruchs-
versuche einzelner siegreich zu Ende ge-
führt werden könne, sondern nur durch
einen völligen, umfassenden Neubeginn.
Man begriff, daß wir am Anfang einer
grundstürzenden, sozialen Umschichtung
stehen, die Massen in Bewegung bringt und
die ganze gesellschaftliche Struktur ändert.
Wie im einzelnen dieser Prozeß auch ver-
laufe — eins ist sicher: er Avird durch einen
neuen Kollektivwillcn bestimmt sein. Und
gegenüber dieser gewaltigen, durch die
ganze Breite der Kultur laufenden Erschüt-
terung wird sich nur eine Kunst halten kön-
nen, die nicht auf zeitbegrenzten Formeln,
aber auch nicht auf der Zufälligkeit der noch
so bedeutenden Einzelperson, sondern auf
tiefen, ewigen und allgemeinen Urkräf-
ten des Menschen gegründet ist. Es mag
manchmal wie eine Spielerei erscheinen,
wenn sich zeitgenössische Künstler zu den
primitiven Völkern flüchten, und es ist auch
eine, sofern sie von ihnen nur eklektizi-
stisch Motive holen. Aber wer nicht an der
Erscheinung haftet, sondern tiefer hinab-
steigt, in den Urgrund hinein, der wird
allerdings inne, daß wir völlig Neues zu
schaffen nicht mehr anders imstande sein
werden, als wenn wir sozusagen ganz von
vorn, von den Urelementen anfangen. Nur
auf diese Weise kann es gelingen, die
Tyrannei der Überlieferung zu brechen
und Form aus Wesen statt Form aus Form
zu schaffen. Es handelt sich nicht etwa
darum, ein „Anderssein" künstlich herzu-
stellen, indem man ehedem gültige Formen

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