bemerkte ich die große Verwandtschaft mit zwei sehr
schönen Werken der Kunst Ferraras aus dem 14. Jahr-
hundert, mit zwei Flötenbläserinnen oder Musen ähnlich,
die sich in der Nationalgallerie i n Budapest
befinden. Eine Aehnilichkeit mit der Kunst P i e r o
d e 11 a F r a n c e s c a s bei einem Francesco d e 1
C o s s a nahestehenden, ausgesprochen ferrarischen
Künstler brachte mich bei Abfassung des dritten Teiles
des 7. Bandes meiner Kunstgeschichte auf die Frage, ob
nicht vielleicht die beiden Bilder und noch ein anderes,
ihnen verwandtes, eine sinnbildliche Darstellung des
Monats „S e p t e m b e r“ im B e r 1 i n e r M u s e u m ,
ein Werk des Ferraresen G a 'l a s s o sein könnten, der
nach Vasari*) ein Schüler Piero della Francescas war
und von Rogier van der Weyden die Technik der Oel-
inalerei übernahm. Die Identität des Meisters der in
Budapest befindlichen Bilder und des Künstlers der
Tarockkarten wird in die Augen springend, sobald man
die unvermeidliche Verschiedenheit, die sich zwischen
einem Kupferstich und einem mit aller Sorgfalt ausge-
führten, herrlich beleuchteten Oelgemälde ergibt, in
Rechnung stellt. Um sich aber endgültig überzeugen zu
können, braucht man nur das Bi'ld der Euterpe auf
Karte 18 und das der Flötenbläserin in der Budapester
Nationalgalerie gegenüberzustellen. Auf beiden Bil-
dern derselbe reiche Faltenwurf, dieselben leuchtenden
zarten Hände, die gleichen Züge in den länglichen, zum
Rechteck streberrden Gesichtern, die nämliche große
Stirn, dieselbe grade Nase, unten ein klein wenig ver-
breitert, dazu der gleiche Zug um die Augen. Unter den
herrlichen Samtärmeln der Flötenbläserin in Budapest
ahnt man die feinen Arme und runden Schultern der
Muse Euterpe. Die gleiche typologische Aehnlichkeit
findet sich noch auf anderen Bildern, besonders bei der
„Musik“ (Karte 26) und der „Mäßigkeit“ (Karte 38), aucli
*) V a s a r i : „Le vite de piu eccellenti Architetti Pittori et
Scrittori etc.“ Florenz, 1550.
beim Engel der „Ersten Bewegung“ und der Muse
„Thalia“. Auch der Hintergrund der Bilder erinnert sehr
an die Gemälde Galassos: der gewellte Boden auf dem
Berliner Bilde („Der September“) hat die größte Aehn-
lichkeit mit der Art der Darstellung auf der Karte der
„Urania“; das Gleiche gilt von der Linienführung der
Straßen auf beiden Landschaften.
Wenn einige dieser volkstümlichen Kupferstiche
nicht die Eleganz der beiden Budapester Musen errei-
chen, so sind aiidere doch wieder von einer unglaublichen
künstlerischen Feinheit, so z. B. die Gestalt des alten,
erschöpfenden Bettlers und des elastischen, gewandten
Dieners, dessen ganze Figur gotische Schlankheit aus-
drückt, von den sichelförmigen Enden der Haare bis
lierab zum Rande des pelzverbrämten, enganliegenden
Jacketts. Wieder andere verraten ein stark dekora-
tives Talent mit reizender Erfindungsgabe. Auf dem
Bilde der „Melpomene“ zum Beispiel bildet die an den
Bogen gelehnte Gestalt mit den gewölbten Aermeln der
vom Wind aufgebauschten Tunika einen einzigen Ryth-
mus der Haltung. Oder der Engel der „Ersten Bewe-
gung“ mit dem prachtvollen Faltenwurf, der sich in Win-
dungen herabsenkt, wie auf barocken Zierleisten, bei
denen der alabasterne Schimmer des Schattens zwischen
den hellen Emaillestellen allein durch die einfache
Mischung von Schwarz und Weiß hervorgebracht wird.
Auf den Bildern mit den kleineren Gestalten, ganz
besonders auf der Karte, die den Mond darstellt, geniigen
dem Künstler oft wenige Striche, um den Zusammen-
hang zwischen einer Meereswelle und dem Bogen des
Himmelswagens herzustellen. Solche Feinheiten deuten
trotz der Freude, zuweilen Gestalten zu schaffen, die
ebenso gut auch auf einem Karnevalswagen gezeigt
werden könnten, und dem Gebrauch volkstümlicher
Ausdrucksweise in lebhaften und oft derben Formen, auf
den Mäler der künstlerisch so wertvollen Musen in der
Nationalgalerie zu Budapest hin.
(Autorisierte Uebertragung, aus dem Italienischen von Eugen Kogon.)
502
schönen Werken der Kunst Ferraras aus dem 14. Jahr-
hundert, mit zwei Flötenbläserinnen oder Musen ähnlich,
die sich in der Nationalgallerie i n Budapest
befinden. Eine Aehnilichkeit mit der Kunst P i e r o
d e 11 a F r a n c e s c a s bei einem Francesco d e 1
C o s s a nahestehenden, ausgesprochen ferrarischen
Künstler brachte mich bei Abfassung des dritten Teiles
des 7. Bandes meiner Kunstgeschichte auf die Frage, ob
nicht vielleicht die beiden Bilder und noch ein anderes,
ihnen verwandtes, eine sinnbildliche Darstellung des
Monats „S e p t e m b e r“ im B e r 1 i n e r M u s e u m ,
ein Werk des Ferraresen G a 'l a s s o sein könnten, der
nach Vasari*) ein Schüler Piero della Francescas war
und von Rogier van der Weyden die Technik der Oel-
inalerei übernahm. Die Identität des Meisters der in
Budapest befindlichen Bilder und des Künstlers der
Tarockkarten wird in die Augen springend, sobald man
die unvermeidliche Verschiedenheit, die sich zwischen
einem Kupferstich und einem mit aller Sorgfalt ausge-
führten, herrlich beleuchteten Oelgemälde ergibt, in
Rechnung stellt. Um sich aber endgültig überzeugen zu
können, braucht man nur das Bi'ld der Euterpe auf
Karte 18 und das der Flötenbläserin in der Budapester
Nationalgalerie gegenüberzustellen. Auf beiden Bil-
dern derselbe reiche Faltenwurf, dieselben leuchtenden
zarten Hände, die gleichen Züge in den länglichen, zum
Rechteck streberrden Gesichtern, die nämliche große
Stirn, dieselbe grade Nase, unten ein klein wenig ver-
breitert, dazu der gleiche Zug um die Augen. Unter den
herrlichen Samtärmeln der Flötenbläserin in Budapest
ahnt man die feinen Arme und runden Schultern der
Muse Euterpe. Die gleiche typologische Aehnlichkeit
findet sich noch auf anderen Bildern, besonders bei der
„Musik“ (Karte 26) und der „Mäßigkeit“ (Karte 38), aucli
*) V a s a r i : „Le vite de piu eccellenti Architetti Pittori et
Scrittori etc.“ Florenz, 1550.
beim Engel der „Ersten Bewegung“ und der Muse
„Thalia“. Auch der Hintergrund der Bilder erinnert sehr
an die Gemälde Galassos: der gewellte Boden auf dem
Berliner Bilde („Der September“) hat die größte Aehn-
lichkeit mit der Art der Darstellung auf der Karte der
„Urania“; das Gleiche gilt von der Linienführung der
Straßen auf beiden Landschaften.
Wenn einige dieser volkstümlichen Kupferstiche
nicht die Eleganz der beiden Budapester Musen errei-
chen, so sind aiidere doch wieder von einer unglaublichen
künstlerischen Feinheit, so z. B. die Gestalt des alten,
erschöpfenden Bettlers und des elastischen, gewandten
Dieners, dessen ganze Figur gotische Schlankheit aus-
drückt, von den sichelförmigen Enden der Haare bis
lierab zum Rande des pelzverbrämten, enganliegenden
Jacketts. Wieder andere verraten ein stark dekora-
tives Talent mit reizender Erfindungsgabe. Auf dem
Bilde der „Melpomene“ zum Beispiel bildet die an den
Bogen gelehnte Gestalt mit den gewölbten Aermeln der
vom Wind aufgebauschten Tunika einen einzigen Ryth-
mus der Haltung. Oder der Engel der „Ersten Bewe-
gung“ mit dem prachtvollen Faltenwurf, der sich in Win-
dungen herabsenkt, wie auf barocken Zierleisten, bei
denen der alabasterne Schimmer des Schattens zwischen
den hellen Emaillestellen allein durch die einfache
Mischung von Schwarz und Weiß hervorgebracht wird.
Auf den Bildern mit den kleineren Gestalten, ganz
besonders auf der Karte, die den Mond darstellt, geniigen
dem Künstler oft wenige Striche, um den Zusammen-
hang zwischen einer Meereswelle und dem Bogen des
Himmelswagens herzustellen. Solche Feinheiten deuten
trotz der Freude, zuweilen Gestalten zu schaffen, die
ebenso gut auch auf einem Karnevalswagen gezeigt
werden könnten, und dem Gebrauch volkstümlicher
Ausdrucksweise in lebhaften und oft derben Formen, auf
den Mäler der künstlerisch so wertvollen Musen in der
Nationalgalerie zu Budapest hin.
(Autorisierte Uebertragung, aus dem Italienischen von Eugen Kogon.)
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