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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 1.1925-1926

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Behrendt, Walter Curt: Die Situation des Kunstgewerbes
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https://doi.org/10.11588/diglit.13211#0066

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Heinrich Tessenow, Dresden Doppelbett
Ausführung: Deutsche Werkstätten, Dresden-Hellerau

Das sogenannte Kunstgewerbe befindet
sich gegenwärtig in einer höchst prekären
und schwierigen Lage. Es fehlt ihm die
klare, geistige Orientierung, die seiner Pro-
duktion Problem und Inhalt geben und sie
über das bloße Dekorieren hinaus zur ur-
sprünglichen, wesenhaften Gestaltung hin-
führen könnte. Ohne diese strenge einheit-
liche Zielsetzung für seine gestaltende Ar-
beit folgt das Kunstgewerbe den bedeu-
tungslosen Zufälligkeiten individuellen Ge-
schmacks, der sich, je nach Talent und
Neigung, in unendlichen Variationen über-
kommener Schmuckformen gefällt oder
die wechselnden Formen der jeweils herr-
schenden Kunstrichtungen mit fatalem Ge-
schick zu modischen Ornamenten abwan-
delt. Wobei die mehr oder minder starke
Ausprägung dieser persönlichen Tugend
auf der einen Seite, um den erreichbaren
Höchstgrad der Leistung zu bezeichnen,
so vollendete, reizvolle und verfeinerte
Dinge hervorbringt, wie die Erzeugnisse

der Wiener Werkstätten, auf der anderen
Seite aber, aus Unbeherrschtheit des Tem-
peraments oder Mißbrauch allzu virtuos
geübter Techniken, so fragwürdige Arbei-
ten entstehen läßt, daß dem Stuttgarter
Museum für Geschmacklosigkeiten immer
wieder Gelegenheit zu wertvollen Neuer-
werbungen erwächst.

Geschmack allein genügt eben nicht. Er
vermag dem Kunsthandwerk die fehlende
geistige Orientierung nicht zu ersetzen, und
ohne die strenge Bindung an eine überper-
sönlichc Stilidee hängt die kunstgewerb-
liche Produktion gänzlich in der Luft.
Als virtuoser Ausdruck eines individuellen
Spieltriebs, der jeden seiner mehr oder
minder geistreichen Einfälle in die greif-
bare Wirklichkeit des Materials überträgt,
ist die kunstgewerbliche Arbeit heule zu
einer bloßen Uebuhg der Handfertigkeit
und des technischen Könnens herabge-
drückt. Als solche bringt sie immer wieder
hervorragende und höchst bewunderungs-

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