Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 1.1925-1926
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Fischer, Hans W.: Der Neue Tanz in seiner symptomatischen Bedeutung
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Schule Trümpy-Skoronel: Kadenz
Phot. V. Szabö
Und nun wird bereits klar, daß sich zwangs-
läufig auch die Vereinigung der neuen
Tanzkunst mit der neuen Bühnenkunst an-
bahnt. Schon die heutigen Regisseure neuen
Geistes, die mit dem alten Appparat zu ar-
beiten gezwungen sind, kommen ohne An-
näherung an che Bewegungskunst nicht aus.
Tollers „Masse Mensch" in Fehlings, Carl
Hauptmanns „Abtrünniger Zar" in Holls
Inszenierung (beide an der Berliner Volks-
bühne) wiesen besonders entschieden nach
ihr hin; aber Jeßner, Marlin, Engel stehen
ihr gleichfalls nah genug, und von den gro-
ßen Berliner Regisseuren bewegt sich nur
noch Reinhardt, dieser allerdings mit höch-
ster Meisterschaft, auf dem Boden der Bal-
lellkunst. Sie hält sich auch noch in der
Revue, allerdings stark beeinflußt durch
den Jazz; aber eben der Jazz ist dem Ballett
grundsätzlich nach seiner ganzen Struktur
bei weitem fremder als dem neuen Tanz.
Daß dieser der Bühne lange Zeit ferngehal-
ten wurde, hat ihm keine Nachteile ge-
bracht. Im Gegenteil: er wurde so davor
bewahrt, gleich von Anfang an im Sinne
erprobter Zweckmäßigkeit um- und abge-
bogen zu werden, ehe er sich zur vollen
Reife entwickelte. Er blieb in regem Bluls-
austausch vor allem mit den volkstümlichen
Bestrebungen des Laienspiels, das freilich
nur in Haaß-Berkows schönsten Schöpfun-
gen („Paradeisspiel", „Totentanz", Goethes
„Prometheus") zu wirklicher Höchstlei-
stung aufstieg, aber doch bündig dartat, daß
eine große Sehnsucht nach einem Theater
vorhanden ist, das nicht von außen an das
Volk herangebracht wird, sondern aus ihm
selbst erwächst. Die Auffrischung noch so
schöner alter Spiele konnte dieser Selm-
sucht nicht Genüge tun; auch hier muß von
Grund auf neu geschaffen werden, und die
Stunde harrt des Dichters, der nicht mehr
aus individuellster Isolierung, sondern aus
einem großen Gemeinschaftsgefühl heraus
schafft.
Alle diese Dinge brauchen Zeit und dulden
keine Überstürzung. Sie sind noch nirgends
verwirklicht, auch da nicht, wo der stärkste
und kühnste Wille dazu am Werke ist: in
Rußland. Tairoff sowohl wie Meyerhold
sind viel zu sehr von dem Willen, „anders"
zu sein, besessen, als daß sie ruhig von
Grund auf bauen könnten; die Signatur
ihrer Leistung ist großartige Vergewalti-
gung. Oder glaubt jemand im Ernst, daß
es Symptom eines organischen Werdens
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Phot. V. Szabö
Und nun wird bereits klar, daß sich zwangs-
läufig auch die Vereinigung der neuen
Tanzkunst mit der neuen Bühnenkunst an-
bahnt. Schon die heutigen Regisseure neuen
Geistes, die mit dem alten Appparat zu ar-
beiten gezwungen sind, kommen ohne An-
näherung an che Bewegungskunst nicht aus.
Tollers „Masse Mensch" in Fehlings, Carl
Hauptmanns „Abtrünniger Zar" in Holls
Inszenierung (beide an der Berliner Volks-
bühne) wiesen besonders entschieden nach
ihr hin; aber Jeßner, Marlin, Engel stehen
ihr gleichfalls nah genug, und von den gro-
ßen Berliner Regisseuren bewegt sich nur
noch Reinhardt, dieser allerdings mit höch-
ster Meisterschaft, auf dem Boden der Bal-
lellkunst. Sie hält sich auch noch in der
Revue, allerdings stark beeinflußt durch
den Jazz; aber eben der Jazz ist dem Ballett
grundsätzlich nach seiner ganzen Struktur
bei weitem fremder als dem neuen Tanz.
Daß dieser der Bühne lange Zeit ferngehal-
ten wurde, hat ihm keine Nachteile ge-
bracht. Im Gegenteil: er wurde so davor
bewahrt, gleich von Anfang an im Sinne
erprobter Zweckmäßigkeit um- und abge-
bogen zu werden, ehe er sich zur vollen
Reife entwickelte. Er blieb in regem Bluls-
austausch vor allem mit den volkstümlichen
Bestrebungen des Laienspiels, das freilich
nur in Haaß-Berkows schönsten Schöpfun-
gen („Paradeisspiel", „Totentanz", Goethes
„Prometheus") zu wirklicher Höchstlei-
stung aufstieg, aber doch bündig dartat, daß
eine große Sehnsucht nach einem Theater
vorhanden ist, das nicht von außen an das
Volk herangebracht wird, sondern aus ihm
selbst erwächst. Die Auffrischung noch so
schöner alter Spiele konnte dieser Selm-
sucht nicht Genüge tun; auch hier muß von
Grund auf neu geschaffen werden, und die
Stunde harrt des Dichters, der nicht mehr
aus individuellster Isolierung, sondern aus
einem großen Gemeinschaftsgefühl heraus
schafft.
Alle diese Dinge brauchen Zeit und dulden
keine Überstürzung. Sie sind noch nirgends
verwirklicht, auch da nicht, wo der stärkste
und kühnste Wille dazu am Werke ist: in
Rußland. Tairoff sowohl wie Meyerhold
sind viel zu sehr von dem Willen, „anders"
zu sein, besessen, als daß sie ruhig von
Grund auf bauen könnten; die Signatur
ihrer Leistung ist großartige Vergewalti-
gung. Oder glaubt jemand im Ernst, daß
es Symptom eines organischen Werdens
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