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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 1.1925-1926

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Scheibe, Harry: Die Atmosphäre der neuen Architektur
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https://doi.org/10.11588/diglit.13211#0410

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werken, z. B. durch Induktion und Intuition
geschöpften (die faktischen) Kunstlehren
berechtigt sind, sondern auch, daß die prin-
zipiellen Kunstlehren Geltung haben kön-
nen, welche in der Hauptsache den Weg zu
nicht vorhandenen (künftigen) Kunstwer-
ken weisen.

Jede neue Erkenntnis ist und wirkt aufrich-
tige Entscheidung: Erfordert die Ehrlich-
keit nicht, mit neuen Mitteln zu bauen, wenn
diese zur Verfügung stehen? Die neuen
Mittel der Baukunst sind u. a. vor allem
Eisen, Eisenbeton und Glas. Und nicht nur
sind die Mittel neu, sondern auch ihre Ver-
wendungsweise : Man kann durch moderne
maschinelle Fabrikation jedes dieser Mate-
rialien in die gewünschte Form bringen.
Neue Konstruktionen waren nötig, zum Teil
vorhanden, warum sollte man sie nicht ver-
wenden? Soll uns die Furcht vor schlechten
Überlieferungen abhalten, das Richtige zu
tun? Aber die Furcht hat hundert Augen —
kein Gesicht.

Obgleich nun allerdings die neue Architek-
tur materialgerecht sein mußte, verfehlte
man doch im Anfang öfters das Ziel, indem

IrihaltsYertiefung und verstärkte, verbreitete Lebensnähe
der Kunst.

u. Ist das Prinzip des „Formlosen" in Architektur, Male-
rei und anderen Künsten kaum aufrecht zu erhalten.
Dieses Prinzip ist mißverständlich ausgedrückt und ein
teilweises Selbstmißverständnis van Doesburgs. Denn
selbstverständlich hat z. 13. jede Architektur als solche
„Form" oder „Gestalt" und ist daher als solche keines-
wegs „formlos": das ist der mißverständliche Ausdruck.
Außerdem ist die Gestaltung, wenn ich hier in freier
Wiedergabe van Dcesburgs wesentlichen Gedanken rich-
tig wiedergegeben habe, nicht nur die polarische Auf-
hebung (in der Wechselseitigkoit des einen Verhältnis-
ses durch das andere) rationaler Verhältnisse im Unend-
lichen: das ist das Selbstmißverständnis. In Wahrheit
ist die Kunst, die Gestaltung des Lebens in Werkformen
von (gelegentlich zweckloser) Bedeutung die polarische
Aufhebung aller endlichen (positiven und negativen,
rationalen und irrationalen) Verhältnisse im Unendlichen
durch das Negative (oder wenn man sagen will: „Form-
lose") überhaupt oder, was dasselbe ist, aus der Unge-
stalt heraus. Die Kunst ist daher magisch, insofern sie
nicht nur die gewirkte, sondern vor allem die wirkende
Natur so wiedergibt, wie sie sich durch die Verschmel-
zung der Phantasie mit der gesättigten, lebendigen Wirk-
lichkeit ergibt. Außerdem ist sie realistisch und sym-
bolisch zugleich, sie bringt den So-ßestand (der Er-
fahrung) zu bedeutendem Bestand. Ja die Kunst ist und
bleibt sogar mystisch, insofern das Unausdeulbare der
letzten Dinge in jeder ihrer Deutungen vorhanden bleibt
und auch darum, weil alle bestimmten Gestaltungen 'das
Unbestimmte schlechthin, voraussetzungshaft einschlie-
ßen: weil die Darstellung selbst aller Sphären (Reiche)
des Lebens Atmosphären (Umreiche) schafft und be-
dingt: weil die absichtslose und ahnungsfreie Wiedergabe
des Lebens seine sonst kaum angebbaren (höheren) Ab-
sichten (oder Zwecke) in rauschhafter, schaüervoller
Ahnung zur Erweckung bringt.

man fast über dem Material und dem Wil-
len zur Form, der bekanntlich (natürlicher-
weise) dem „Formlosen" entspringt, fast
den Inhalt. Das Bauproblem heißt doch
immer: Wie läßt sich Gegebenes in Ge-
suchtes verwandeln? Gegeben sind die
neuen Baumittel und der Bauauftrag, gege-
ben sind die Landschaft und (bisweilen mit
Spielraum) der Geländegrund, gegeben
auch die Bestimmungen des Hauses (Turn-
halle, Bahnhof, Siedlungshcim, Familicn-
haus, Hochbau, Fabrik, Kirche), gegeben
auch die Bedürfnisse der Benutzung, gege-
ben sind die baupolizeilichen Vorschriften
und die wirtschaftlichen Bedingungen des
Auftraggebers. Aus dem „Formlosen" und
somit Ungegebenen entspringt der Gestal-
tungswille des Architekten und sättigt sich
voller Freude an der Fülle für ihn wichti-
ger Erscheinungen. Nach dieser Sättigung
am Gegebenen entsteht im Bingen um die
Lösung — eben die Lösung. Diese Lösung
ist gewissen ästhetischen Erwägungen wie
jeder radikalen Einseitigkeit gleich fern.
Schmuck und Zier sind unberechtigt, sofern
sie nicht materialgerecht dem Bauganzen
unterstehen und unlerformt sind. Andrer-
seits stößt sowohl das Bauwerk ab, das eine
Anhäufung unkomponierten Materials ist,
wie wir den Zweckbau verurteilen, dessen
Zweck den Bau übertönt.

Auch die Bedeutung der Symmetrie ist zu-
rückgegangen, weil vielfach die Asymmetrie
den Bauerfordernissen besser entspricht.

Selbstverständlich fällt jede Verschleierung
des Baumaterials und Bauzwecks fort.

Ein Warenhaus ist und bedeutet ein Waren-
haus, ein Hochhaus ist und bedeutet ein
Hochhaus usw. Leider ist diese Auffassung
noch nicht bei allen Architekten durchge-
drungen : Immer wieder stößt man auf neue
Bauten, welche das Baumaterial und das
Gesamtwesen des Baues dekorativ verschlei-
ern wollen und Anklänge an frühere Stil-
arten, Gotisch, Barock, Renaissance, Roma-
nisch bringen. Ich erinnere dabei nur an
amerikanische Hochhäuser, welche den
Aufputz einer gotischen Kathedrale tragen,
an deutsche Bahnhöfe, die in mancherlei
Stilarten mutieren.

Das Wesen der neuen Architektur rergibt
sich ungezwungen aus den guten Beispielen,

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