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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 1.1925-1926

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Scheibe, Harry: Die Atmosphäre der neuen Architektur
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https://doi.org/10.11588/diglit.13211#0411

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welche sie gezeitigt hat. Statt des Last-
Stützesystems stehen dynamische funktio-
nale Wechselbeziehungen im Vordergründe,
statt der Bezüglichkeit auf sich und der
inneren Abgeschlossenheit gegenüber dem
freien Umraum (Beispiel: gotische Kirche)
findet sich künstlerisch ein vollständiges In-
einanderübergehen von Inncrem und Äuße-
rem, statt verkehrsfremder Idyllik monu-
mentale Eingliederung. Jeder Bauteil steht
darum in deutlicher Beziehung zum Bau-
komplex: auch die Lücken, Fenster usw.
haben ihre Funktion als negative Bauteile,
welche die positiven undurchsichtigen auf-
heben. Der Komplexcharakter bewirkt den
Eindruck geschlossener Offenheit, weltwei-
ter Sammlung. Licht und Luft haben be-
dingungslosen hygienischen Vorrang, das
Bauinnere kennt jeden technischen Vorzug.
Ein anderer Fortschritt besteht in der küh-
nen, konzentrischen Verwendung kontrast-
hafler Kurvenverbindungen, welche den
modernen Bau tauglich macht, den Anprall
der Umwelt zu ertragen und abzufangen.
Zwar gibt es in dieser Hinsicht auch bereits
manche natürliche Lösungen, aber sie sind
nicht aus dem instinktiven Bewußtsein, son-
dern wohl aus dem bloßen Instinkt des
Architekten hervorgegangen. Vielleicht
schlummern liier noch die Geheimnisse ge-
wisser Symmetrien, welche noch keiner
kennt. In der Kurvenführung wird der Ar-
chitekt sowohl vom Mathematiker wie vom
Ingenieur lernen müssen, um sie zum Teil
sogar abzulösen. Andererseits wird auch
das Studium der architektonischen Urer-
scheinungen Mauer und Brücke, endlich das
Studium der Naturformen Anregung geben
können. Schließlich wird die Schwesler-
kunst Musik, das Gegenprinzip der Archi-
tektur in ihrem Verhältnis zu Technik und
Natur, manchen unbekannten Grundsatz er-
schließen.

Wir wollen nicht vergessen die Frage an die
Geschichte: Woran scheiterte das Gesamt-
kunstwerk'? ohne Zorn und Eifer zu stellen.
Ich kann diese Antwort nur andeutungs-
weise wiedergeben. Die Geschichte der

Menschheit kennt, soviel ich weiß, nur Kult-
bauten, keine Gesamtkunstwerke von Dauer
und Bedeutung. Gelegentliche Versuche
zum Gesamtkunstwerk sind immer wieder
gescheitert. Dem Doesburgschen Versuch,
zum Gesamtkunstwerk zu gelangen, fehlte
die Vertikale der Kollektivismen. Denn die
Planwirtschaft, nein der bloße Nebeneinan-
derkollektivismus ist eine Angelegenheit der
reibungsfreien äußeren Beziehungen, er-
setzt daher niemals die innersten Werte. So
blieb jedermann sein eigener Himalaja.

Ich brauche zum Schluß wohl nur zu er-
wähnen, daß selbst jede bedeutende künst-
lerische Leistung gerade dann, wenn sie es
ist, in anonymer Selbstlosigkeit die Wurzeln
der Zeit aufzeigt und offenbart. In unseren
Tagen hat sich das Antlitz der Epoche zu-
erst seltsamerweise — nicht in der Dichtung
und nur vorahnend in der Philosophie
(Nietzsche!) in der Malerei erleuchtet und
erhellt: aber die heraufkommende Archi-
tektur fängt an, ihr Gesicht zu entwirken.
Noch schweigt die seltzeiten erdröhnende
Stimme der Philosophie — ich zweifle
nicht, daß sie bald ertönen wird. In dem
großartigen und ungeheuren Ausgleich aber
zwischen westlicher und östlicher Kultur
wird sie, wenn nicht alle Zeichen trügen, die
weltweile komplexäre Geschlossenheit der
Architektur auf ihre Weise erreichen. Ähn-
lich wie in der neuen Architektur die
Systeme von Last und Stütze, werden in der
neuen Philosophie die naturgesetzlichen
Systeme, welche sich last- und stützenhaft
aufbauten, zurücktreten nicht trotzdem,
sondern weil die Ordnung der Natur er-
kannt wurde; die wirkliche Natur ist aber
sicher noch ein anderes als Ordnung — was
ist sie noch: und wie ist ihre Gestalt?

Die Wirklichkeit ist ein Konflikt, und
bleibt es. Das große Kunstwerk aber, die
Gestallung des Lebens zeigt uns selten und
seltsamerweise eine harmonische Vollkom-
menheit, welche nichtsdestoweniger die Un-
vollendetheit des Lebens in befreiender
Trauer erkennen läßt.
 
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