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Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt — 14.1934

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Heft 1
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Goering, Reinhard: Erlöserprobe in Herrchenberg
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https://doi.org/10.11588/diglit.62258#0046

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15. Mai. — Wir haben viel gelernt. Wir wissen, daß „Reinheit“ das höchste
Gut ist. Wir wissen, daß der Weg zur Vollendung nur über den Vegetarismus
geht. Wir haben eine Andacht mitgemacht, bei der wir die Stirn auf den
Boden tun mußten und mit dem einen Bein Bewegungen nach hinten machen,
als wollten wir damit steuern. Wir waren so verblüfft, daß wir nicht mal
lachten. Dann haben wir „Harmonieübungen“ machen müssen, wobei wir
alle auf einen bestimmten Punkt starren mußten und dann fühlen sollten, wie
das „Erhabene in uns eintrat“ und „Wellen des Alls“ uns durchfluteten.
Wir haben das zwar nicht gefühlt, aber von anderen gehört, daß sie es
deutlich gespürt hätten. Das hat uns kolossal beruhigt. Das Essen hat uns
wunderbar geschmeckt. „Da reden diese dämlichen Feinde immer vom Blöd-
sinn des Vegetarismus und meinen, wenn sie Fleisch fortlassen, seien sie Vege-
tarier. Diese Narren. Vegetarismus ist eine Kunst, ein System, eine Methode
fein ausgedachter Ergänzungen.“ Fehlt z. B. bei solchen Gerichten ein be-
stimmtes Kräutchen, ein bestimmtes Gewürz, so wirst du, mein Lieber, un-
fehlbar erkranken, und mit dem Eintritt der Wellen des Alls in deinen Schädel
ist es Essig, übrigens, der Weg vom normalen, leichenfressenden und ver-
dreckten Tiermenschen bis zum Erlöser ist ein langer. In neun Jahren kannst
du ans Ziel kommen.
Nur ganz besonders gut Veranlagte schaffen es in kürzerer Frist, ja sogar
in Wochen und Monaten. Und so ganz besonders gut veranlagt scheint Fräu-
lein Schäfer zu sein und noch ein Fräulein Wickel. Wir anderen alle, an die
dreißig Gäste, sind normal und unbegabt.
*
1. Juni. — Wir sind über vierzehn Tage hier. Wir fühlen uns „sau“-wohl.
So zur Abwechslung mal kein Fleisch essen, ist tatsächlich eine großartige
Sache. Hans, der Maler, aber hat bereits ernsthaftes Interesse an der ganzen
Sache bekommen und kasteit sich, d. h. er ißt so wenig wie möglich und will
demnächst fasten. Es ist so viel passiert hier inzwischen, daß ich ein Buch
schreiben könnte. Aber man hat keine Lust. Sonne, der See, die Leichtig-
keit, die man infolge dieser Ernährungsweise spürt, das vegetative Dasein, das
man führt, weiß der Kuckuck, vielleicht auch diese verrückten Atem- oder
Harmonieübungen und das dauernde Singen — man hat gar keine Lust, was
anderes zu tun, als dazusein.
*
10. Juni. — Hans hat gefastet. Zwei Tage. Darauf hat er furchtbaren
Hunger auf Schinken bekommen und sich heimlich welchen gekauft und ihn
verschlungen. Jetzt hat er Magenweh und schwarze Ringe unter den Augen
(ein gutes Zeichen). Heute abend hat er eine halbe Stunde mit Fräulein
Schäfer zusammengesessen und über den „Erlöser“ gesprochen.

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