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Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt — 14.1934

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Heft 1
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Volkslied und Verbrechen
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https://doi.org/10.11588/diglit.62258#0095

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Volkslied und Verbrechen

Es nützt nichts, die Nase zu rüm-
pfen, sich lustig zu machen, zu paro-
dieren, zu persiflieren, wie es die
Brettl-Lyrik so gerne tat: Vom
Lynchen abgesehen, ist die Moritat die
einzige Weise, in der das Volk auf
ein Verbrechen öffentlich reagieren
kann. Die Gefühle sind echt, die Re-
aktion ist echt und gerecht; und wenn
wir trotzdem die Moritat komisch
empfinden, dann darum, weil der an-
onyme Dichter an der Front scheitert
— jedes Wort in seinem Werk soll
schön sein, wie der schlechte Photo-
graph jedes Gesicht schön haben will.
Das, was uns die Moritat so unbe-
schreiblich komisch erscheinen läßt, ist
der unlösbare Widerspruch zwischen
diesem falschen Schönheitsverlangen
und dem echten Bedürfnis nach Kraft
und Dramatik, der — für uns! —
sogar die Natürlichkeit des Empfin-
dens tötet, die in der Moritat immer
liegt.
Die gesungene Ballade und ihr
clownisches Kind, die Moritat, sind
vom Schlager getötet worden; erschla-
gert, sozusagen. Beide sind sie Vaga-
bunden, Kinder der Straße, leben auf
dem Markt und sterben im Saal, auf
dem Podium, weil sie die Voraus-
setzungslosigkeit brauchen, um leben
zu können: im voraus zahlendes
Publikum ist aber selten naiv.
Eine Moritat in ihrer Entstehung
beobachten zu können — das ist eine
ganz seltene Gelegenheit. Wir können
die wenigen Moritaten, die im Druck
vorliegen (die echten, natürlich) nicht
entsprechend würdigen, weil wir die
Geschehnisse, auf die sie sich beziehen,
nicht mehr kennen. Hier aber ist eine,
zu der das gesamte Material vorliegt:
Im September 1933 fand die 21jährige
Violette Nozieres ihre Eltern auf —
den Vater tot, die Mutter sterbend.
Das Verbrechen schien unerklärlich. Als
sich der Verdacht gegen Violette zu
richten begann, verschwand sie, irrte
fünf Tage in Paris herum, und wurde

von einem Studenten, Amateur-Detek-
tiv, gefunden. — Die typische ver-
wöhnte, einzige Tochter hatte ein Dop-
pelleben geführt: zu Hause harmlos und
ehrsam, außer Hause „modern“ und
„gefälliges Mädchen“. — Ihre häuslichen
Diebereien erklären nicht den Giftmord
an den Eltern. Sie behauptet, sich am
Vater rächen gewollt zu haben, ohne
die Mutter töten zu wollen.
Die Sensation war unbeschreiblich
groß. Man sieht heute noch nicht klar
in der Angelegenheit; nach Monaten ist
die Untersuchung noch nicht einmal ab-
geschlossen.
Aber schon die ersten vorläufigen
Mitteilungen genügten: die Moritat
war da! In Paris, wo das Verbrechen
geschah und wo die Voraussetzungen
den Dichtern und dem Publikum am
geläufigsten sind, kursierten binnen
sechs Wochen nach dem Verbrechen
schon vier Lieder (ein Theaterstück
und einen Film gibt es auch!). Das
Volksurteil ist fertig, noch ehe der
Prozeß eröffnet ist, und es ist unwider-
ruflich. Man erwartet noch große Über-
raschungen im Prozeß — dem Volk
genügt das, was man heute schon weiß.
Und hier die Moritat:
I.
Violette war ein süßes Kindchen,
Die Eltern hatten sie lieb,
Hingen an ihrem Mündchen,
Nannten sie Herzensdieb.
Sie ahnten nicht ihr Verderben:
Dereinst, wenn sie bejahrt,
Vom Kinde ermordet zu werden,
Weil sie für es gespart!
Dies war der furchtbare
Dank, der unfaßbare,
Als das Kind war achtzehn Jahre.
Refrain:
Sie ermordet ihre Eltern,
Die gemeine Violette,
Will gestohl’nes Geld behalten,
Lacht sich eins am Totenbett.
In entsetzlicher Verirrung
Hat sie ihnen Gift gebracht:
Löst das Pulver, schaut die Wirkung,
Hat sie grausam tot gemacht.

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