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Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt — 14.1934

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Heft 1
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Marinetti, Filippo Tommaso: Futuristisches Radio-Manifest
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https://doi.org/10.11588/diglit.62258#0071

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Futuristisches Radio-Manifest
Von
F. T. Marinetti
Mitglied der königlich italienischen Dichterakademie
Der Futurismus hat durch Freiwortkunst, Aeropoesie und asyntaktischen, raschen Simultan-
stil die Literatur radikal umgeändert. Der Futurismus hat das Theater durch alogische
überraschungssynthesen von der Langeweile befreit. Der Futurismus hat durch Antirealismus,
plastischen Dynamismus und Aeromalerei die Plastik ins Unendliche gesteigert. Der Futu-
rismus hat den geometrischen Glanz einer dynamischen Architektur, welche die neuen Baustoffe
ohne Dekorativismus und auf lyrische Weise benutzt, den abstrakten Film und das abstrakte
Photo geschaffen.
Wir besitzen schon em Fernsehen von 50 000 Punkten für jede Großaufnahm e auf Groß-
leinwand. In Erwartung der Erfindung des Fernfühlens, des Fernriechens und des Fern-
schmeckens wollen wir Futuristen den Tonfilm vervollkommnen. Er ist dazu bestimmt, den
schöpferischen Geist der italienischen Rasse zu verhundertfachen, die alte Sehnsuchtsqual der
Entfernungen zu beseitigen und überall die Freiwortkunst als seine logische und naturgemäße
Ausdrucksweise durchzusetzen.
Die Radie — so nennen wir Futuristen die großen Offenbarungen des Radios — ist heute noch:
a) realistisch;
b) in eine Bühne eingesperrt;
c) verblödet durch eine Musik, die, anstatt ihre Originalität und Mannigfaltigkeit zu ent-
wickeln, eine widerlich negerartige und schmalzige Eintönigkeit erreicht hat;
d) eine allzu schüchterne Nachahmung des futuristischen Theaters und der Freiwortkunst
auch bei den avantgardistischen Schriftstellern.
Alfred Goldsmith von der New Yorker Radio City sagt: „Marinetti erfand das synthetische
Theater, das Radio wird uns das elektrische Theater geben. Beide sind als Begriff grund-
verschieden, haben jedoch einen Berührungspunkt: daß sie in ihrer Verwirklichung von einem
Integrationswerk ihrer Zuschauer nicht absehen können. Das synthetische Theater verlangt
von den Zuschauern eine Verstandesanstrengung, das elektrische Theater wird eine Anstrengung
der Einbildungskraft verlangen, erstens von den Dichtern, dann von den Schauspielern und
zuletzt von den Zuschauern.“
Auch die französischen, belgischen, deutschen Theoretiker und Dichter avantgardistischer
Hörspiele (Paul Reboux, Theo Freischmann, Jacques Rece, Alex Surchamp, Tristan Bernard,
F. W. Bischoff, Friedrich Wolf, Felix Mendelssohn usw.) loben das futuristische synthetische
Theater und die Freiwortkunst, ahmen sie nach, stehen aber fast alle immer unter dem Alpdruck
eines Realismus, der zwar schnell läuft, aber doch überholt werden kann.
Die Radie soll nicht sein:
1. Theater; weil der Rundfunk das Theater, das der Tonfilm schon besiegt hatte, getötet hat;
2. Kino; weil dieses im Todeskampf liegt:
a) wegen der abgestandenen Sentimentalität seiner Stoffe;
b) wegen seines Realismus;
c) wegen unzähliger technischer Komplikationen;
d) wegen der verhängnisvollen, banalisierenden Wirkung kollektiver Autorschaft;
e) wegen seines reflektierten Lichts, das dem selbstgesendeten Licht des Radio-Fern-
sehens unterlegen ist;
3. Buch; das daran schuld ist, daß die Menschen kurzsichtig geworden sind und das m
sich etwas Schweres, Ersticktes, Fossiles und Erfrorenes hat. (Leben werden nur die
großen Freiwortkunst-Leuchttafeln, die einzige Dichtung, die gesehen werd en muß.

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