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Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt — 14.1934

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Heft 1
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Briefe an den Querschnitt
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https://doi.org/10.11588/diglit.62258#0107

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Briefe an den Querschnitt

Lieber Querschnitt!
Mit Freude las ich Hilaire Bellocs
Aufruf „Für die Auferweckung des
Lateinischen“ (Heft 6). Diese Über-
schrift trifft schon das Kernproblem.
Denn die lateinische Sprache ist keines-
wegs „tot“ (dann wäre es Zeit für ein
Jüngstes Gericht, das sie wieder be-
lebte), sondern sie schlummert bloß,
und zwar im Unterbewußtsein aller
jener Menschen, denen eine „lingua
gentes coniungens“ zugute käme. Zu-
mindest eine primitive Verbundenheit
hat jeder „Gebildete“ zu ihr. Teils
sind ihm mehr oder minder starke
Rudimente des Lateinischen aus roma-
nischen Sprachen bekannt, teils hat er
in seiner Schulzeit selbst gewisse Kennt-
nisse im Lateinischen erworben, die er,
wegen eines Ressentiments, das man
leider nun einmal gegen Schuldinge
hat, später in den finstersten Seelen-
winkel verdrängt hat und dort ein-
schlummern und verstauben ließ.
Leider ist dieses Ressentiment oft nur
allzugut verständlich: zumeist degra-
dierte die Schule das Lateinische zu
einer wirklich toten Sprache, und in
den allerseltensten Fällen nur ver-
mochte eine Lehrerpersönlichkeit wenig-
stens Hochachtung vor dem Lateinischen
zu begründen. Auf der Schule wurde
einem auch nur ein kleiner Ausschnitt
aus der Universalität des Lateinischen
serviert; und leider nicht gerade das,
was ein junger Mensch mit Freuden
aufnimmt; leider trieb man Latein nur
als „Literatur“, nie als „Sprache“. So
erhielt man häufig keinen Blick für die
Elastizität der klassischen lateinischen
Umgangssprache. Die Lektüre von
Ciceros Briefwechsel mit seinem Freund
und Verleger Atticus, in dem sich der
gesamte römische Stadtklatsch der da-
maligen Zeit entfaltet, wäre weit eher
geeignet, das Lateinische Primanern
näher zu bringen, als die Lektüre der
Historiker. Denn nur in wenigen
Fällen wird man Verständnis für die

nahezu expressionistische Stilistik eines
Tacitus, für die auch „modernsten“
Menschen verständliche Gefühlstiefe der
Lyrik Catulls, des einzigen echten
römischen Dichters, für die Schlichtheit
und wertvolle Natürlichkeit eines
Caesar bei ihnen finden können. Auch
von der humanistischen Literatur des
Komödie vermittelt die Schule wenig,
von der humanistischen Literatur des
Mittelalters, oder von den „Vaganten-
liedern“ ganz zu schweigen. Auch die
Universitäten bieten nicht viel Wege
zum tieferen Eindringen in das Latei-
nische: — wenn man nicht gerade Phi-
lologe ist; denn der Corpus iuris ist
wahrhaftig nicht gerade das geeignete,
um Liebe für die lateinische Sprache
wieder wachzurufen. In angelsächsi-
schen Ländern steht es dabei noch am
günstigsten mit den lateinischen Sprach-
kenntnissen, da die Anforderungen, die
dort an den höheren Schulen gestellt
werden, verhältnismäßig höher als in
anderen Ländern sind, und man viel-
leicht auch beim Engländer mehr Ver-
ständnis für „unpraktische“ Liebhabe-
reien, wie das Erlernen antiker Spra-
chen, finden kann.
Wie gesagt, primitive Kenntnisse
sind überall vorhanden. Wie ist es
aber nur möglich, sie zu wecken und
aus ihnen die Fähigkeit zur Beherr-
schung einer lateinischen Umgangs-
sprache zu bilden? Das Nächstliegende
ist wohl, den Lateinunterricht auf den
Schulen umzugestalten. Auch pädago-
gische Gründe sprechen dafür; denn es
ist eine alte Erfahrung, daß man eine
Sprache besser durch Sprechen als
durch Übersetzen lernt. Leider werden
nun gerade in Deutschland die Aus-
sichten für eine derartige Umstellung
des Lateinunterrichts gering sein: es
fehlen jetzt die psychologischen Grund-
lagen, die für die Auferweckung einer
„internationalen“ Sprache unerläßlich
sind. Trotzdem sind in Deutschland
Bestrebungen im Gange, das Lateinische

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