Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt
— 14.1934
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https://doi.org/10.11588/diglit.62258#0523
DOI issue:
Heft 6/7 - Ferien und Reisen
DOI article:Ramus, Pierre: Bei den Irren
DOI article:Tiroler Dorf
DOI Page / Citation link:https://doi.org/10.11588/diglit.62258#0523
Stirne Querfalten bekommt, ein Ausdruck, den man auch oft bei Normalen im
Schmerz oder besonders bei Frauen, wenn sie moralisch beunruhigt sind, be-
obachten kann. Äußerst interessant im Ausdruck sind die Größenwahnsinnigen.
Ein junges Mädchen geht an uns vorbei, ignoriert uns vollständig, der Arzt
hält sie an, sie reckt sich in Hoheitsgeste über ihn weg und beschimpft ihn in
derbster Weise. Mit einem Blick auf mein Notizbuch, in das ich sie gerade
zeichne: „Schreiben Sie nur alles auf, was dieser Hund mir angetan hat“. Sie
wendet sich von uns ab mit einer Geste, die unsere Existenz auszulöschen
scheint. Ihre Oberlippe auf der rechten Gesichtsseite hebt sich, auch die Nase
etwas mit, und der rechte Eck- oder Hundszahn wird sichtbar, was fast einem
Lächeln gleicht, die Augenlider hält sie halb geschlossen. Sie richtet sich steif
und hoch auf, scheint zu wachsen und dreht uns — das Lächeln ist inzwischen
zu einer dumpfen Lache geworden — den Rücken. Wir sind so nichtig für sie,
daß wir ihr unwillkürlich diese Fröhlichkeit entlocken. Sie geht im Korridor-
dunkel auf und ab, setzt sich dann ans Fenster, blättert Seite um Seite in einem
Buch, mit weit geöffneten Augen starrt sie dazwischen ins Leere und nennt
immer wieder denselben Namen. Es war der Name eines mir bekannten Bild-
hauers aus der Gegend.
Lebendige Menschen, die nur noch Schemen, Schatten ihrer selbst sind.
Emotionen, die sich ohne Hemmung ausleben, Haare, die sich vor Schrecken
sträuben, Muskeln, die sich von selbst spannen, Zähne, die in der Wut frei
werden — Rückbildungen in die Tierwelt? Was ist erworben, was ererbt?
Was in diesen Dramen Schicksal und Schuld? Hinter Gittern Paralytiker im
letzten Stadium. Die werden gefüttert wie Tiere, ausgestopft bei lebendigem
Leibe. Ganze Gesichtshälften sind wächsern, leblos, wie anatomische Prä-
parate. Einer kommt ans Gitter anscheinend zornig, stößt unartikulierte Laute
aus und flescht die Zähne gegen mich. Langsam verlöscht ein Sinn nach dem
andern. Ob sie es merken? Ob sie überhaupt noch empfinden? Ob Begriffe,
wie Traum, Schmerz, Mitleid für sie noch gelten? Welcher Art ist das Lust-
gefühl eines Irren, der in euphorischem Zustand in seiner Einbildung jeden
Wunsch, jeden Gedanken erfüllt? Was fühlt er, wenn er der Kaiser von China,
der liebe Gott selbst ist? Viele kommen bei unserm Rundgang zum Arzt, wie
geschlagene gezähmte Tiere. Bei andern ist es nicht leicht, ihre Wildheit ein-
zufangen.
Tiroler Dorf
Der Kirchturm, weiß und nadelspitz,
Ritzt das Himmelsblau,
Wie das blaue Polster, den samtenen Sitz
Der blitzenden Nadeln der Nähfrau.
Die Kirche ist rund, wie ein Fingerhut,
Die kleine Glocke klimpert darin
Töricht und ohne Sinn,
Wie der Nagel am Fingerhut tut.
Der Bergbach hängt wie ein Faden hängt
Und schwenkt schräg durch die Luft.
Wo ihn die Schlucht einfängt, einzwängt,
Zerstäubt er zu grünem Duft.
Georg Britting
359
Schmerz oder besonders bei Frauen, wenn sie moralisch beunruhigt sind, be-
obachten kann. Äußerst interessant im Ausdruck sind die Größenwahnsinnigen.
Ein junges Mädchen geht an uns vorbei, ignoriert uns vollständig, der Arzt
hält sie an, sie reckt sich in Hoheitsgeste über ihn weg und beschimpft ihn in
derbster Weise. Mit einem Blick auf mein Notizbuch, in das ich sie gerade
zeichne: „Schreiben Sie nur alles auf, was dieser Hund mir angetan hat“. Sie
wendet sich von uns ab mit einer Geste, die unsere Existenz auszulöschen
scheint. Ihre Oberlippe auf der rechten Gesichtsseite hebt sich, auch die Nase
etwas mit, und der rechte Eck- oder Hundszahn wird sichtbar, was fast einem
Lächeln gleicht, die Augenlider hält sie halb geschlossen. Sie richtet sich steif
und hoch auf, scheint zu wachsen und dreht uns — das Lächeln ist inzwischen
zu einer dumpfen Lache geworden — den Rücken. Wir sind so nichtig für sie,
daß wir ihr unwillkürlich diese Fröhlichkeit entlocken. Sie geht im Korridor-
dunkel auf und ab, setzt sich dann ans Fenster, blättert Seite um Seite in einem
Buch, mit weit geöffneten Augen starrt sie dazwischen ins Leere und nennt
immer wieder denselben Namen. Es war der Name eines mir bekannten Bild-
hauers aus der Gegend.
Lebendige Menschen, die nur noch Schemen, Schatten ihrer selbst sind.
Emotionen, die sich ohne Hemmung ausleben, Haare, die sich vor Schrecken
sträuben, Muskeln, die sich von selbst spannen, Zähne, die in der Wut frei
werden — Rückbildungen in die Tierwelt? Was ist erworben, was ererbt?
Was in diesen Dramen Schicksal und Schuld? Hinter Gittern Paralytiker im
letzten Stadium. Die werden gefüttert wie Tiere, ausgestopft bei lebendigem
Leibe. Ganze Gesichtshälften sind wächsern, leblos, wie anatomische Prä-
parate. Einer kommt ans Gitter anscheinend zornig, stößt unartikulierte Laute
aus und flescht die Zähne gegen mich. Langsam verlöscht ein Sinn nach dem
andern. Ob sie es merken? Ob sie überhaupt noch empfinden? Ob Begriffe,
wie Traum, Schmerz, Mitleid für sie noch gelten? Welcher Art ist das Lust-
gefühl eines Irren, der in euphorischem Zustand in seiner Einbildung jeden
Wunsch, jeden Gedanken erfüllt? Was fühlt er, wenn er der Kaiser von China,
der liebe Gott selbst ist? Viele kommen bei unserm Rundgang zum Arzt, wie
geschlagene gezähmte Tiere. Bei andern ist es nicht leicht, ihre Wildheit ein-
zufangen.
Tiroler Dorf
Der Kirchturm, weiß und nadelspitz,
Ritzt das Himmelsblau,
Wie das blaue Polster, den samtenen Sitz
Der blitzenden Nadeln der Nähfrau.
Die Kirche ist rund, wie ein Fingerhut,
Die kleine Glocke klimpert darin
Töricht und ohne Sinn,
Wie der Nagel am Fingerhut tut.
Der Bergbach hängt wie ein Faden hängt
Und schwenkt schräg durch die Luft.
Wo ihn die Schlucht einfängt, einzwängt,
Zerstäubt er zu grünem Duft.
Georg Britting
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