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Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 14.1934

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Heft 6/7 - Ferien und Reisen
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Brenner, Hans Georg: Das Land der Stillen: ein Brief aus Masuren
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https://doi.org/10.11588/diglit.62258#0515

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blassenden Farben reihen sie sich weithin aneinander, von großen Wolken
überwölbt, und da Dein Auge immer noch einen Halt zu finden glaubt,
ahnst Du, wie weit die Endlichkeit reicht, ehe das Unendliche beginnen
kann. Und wenn Dir diese Landschaft nun nicht mehr fremd ist und mehr
bedeutet als eine unvergleichliche Ansicht, wenn Du die Strohkate neben
dem neuen Herrenhaus sahst, die Mähmaschine neben der Sichel, den
Traktor neben dem Ochsengespann, die Toten hier über den Lebenden
und — in Gedanken — schilfgedeckte Pfahlbauten zwischen den Inseln,
Ringwälle fremder Eroberer, Pilger auf der Bernsteinstraße von Norden
nach Süden, Urnengräber nomadisierender Ostgoten unter dem Weidegras,
Tatarenschädel im sandigen Abfall, Ritterschwerter auf dem Grund der
Seen und über allem — heute wie gestern — farbige Wolken zu scharfen,
drohenden Gebirgen getürmt . . . wenn Du dieses alles in seiner unvergäng-
lichen Schwermut gesehen hast, wirst Du endlich in den verhangenen
Augen der Menschen lesen können, was der Wechsel der Jahrhunderte,
der große Krieg zuletzt, der Wiederaufbau und der tägliche Kampf um
den bäuerlichen Bestand an alten Überlieferungen verwischt haben und
was noch unter dem uniformen Gewand des Bauern, des Land- und Wald-
arbeiters oder des Fischers sein heidnisches Wesen treiben mag. Nicht
selten flieht einer von ihnen die Armut des Ackers, um sich sein Leben
lang in fremden Ländern herumzutreiben. Aber wer nicht verschollen
blieb, kommt am Ende seiner Tage zurück, ein jeder auf seinen Platz, den
ihm die Wiege bestimmt hat. Und wenn er stirbt, geben die Verwandten
einen großen Schmaus, um alles zu verzehren, was er in einem längeren
Leben noch hätte verbrauchen können; denn sie wollen sich an seinem
Sterben nicht bereichern, und sie stellen ihm einen Stuhl vor die Tür,
damit sich die Seele nach den Mühen des Lebens ausruhen kann, bevor
sie sich zur großen Reise rüstet . . . Auf diesem Hügel scheinen sie alle
wieder versammelt zu sein.
Und da begreifst Du, wie nahe sich Westen und Osten sein können,
wie gering die Grenzen der Völker sind, wenn sie im Menschen selber
liegen, und was der Mensch alles zu überdauern vermag. Und Du wirst
erfrischt und getröstet Deiner Wege gehen.
Zu diesem Heft
Nirgends ist, wer überall ist. Denen, welche ihr Leben auf Reisen
hinbringen, begegnet es, daß sie viele Gastfreunde, aber keine Freunde
haben. Seneka.
Was wunderst du dich, daß deine Reisen dir nichts nützen, da
du dich selbst mit dir herumschleppst? Es kommt mehr darauf an,
wie du kommst, als woher du kommst, und daher sollen wir unser
Herz an keinen Ort hängen. Sokrates.
Eine Gans übers Meer, eine Gans wieder her; eine Gans übern
Rhein, eine Gans wieder heim. Altdeutsches Sprichwort.

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