Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt
— 14.1934
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https://doi.org/10.11588/diglit.62258#0045
DOI issue:
Heft 1
DOI article:Goering, Reinhard: Erlöserprobe in Herrchenberg
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Erlöserprobe in Herrchenberg
Von
Reinhard Goering
14. Mai. —• Gestern sind wir hier angekommen, der Maler und ich. Wir
meldeten uns auf dem Büro. Fräulein Schäfer verhörte uns.
Bereits seit längerer Zeit Vegetarier?
Nein, überhaupt noch nicht.
Schon vom „Meister“ gehört?
Kurz und Ungenügendes.
Ob wir aus Neugier kämen?
Aber durchaus nicht. Wir wollten die Heilslehre kennenlernen und selbst
Erfahrungen machen. Fielen diese gut aus, so wollten wir Anhänger werden.
Fräulein Schäfer bekommt ein abweisendes Gesicht.
übrigens, sage ich schnell hinzu, wir sind mit Klara Linker (einer ver-
rückten Erzieherin) bekannt, und die hat uns so viel Gutes vom „Meister“
erzählt, daß wir den innigen Wunsch haben, diese neue Lehre ernsthaft zu
studieren und wirklich und wahrhaftig Anhänger zu werden, wenn sie uns
befriedigt. Wir sind so unbefriedigt von der Welt im allgemeinen und von
allen Heilslehren im besonderen!
Die Schatten über dem Gesicht der Büroleiterin hellen sich etwas auf. Sie wirft
zwei lange prüfende Blicke auf uns, der Maler sagt ihr mehr zu, ich weniger.
Wie lange wir bleiben wollten.
Drei bis vier Wochen.
Es seien zufällig noch zwei Salons frei in der Baracke.
Gut, die sollten wir haben, probeweise.
Wir geben unsere Personalien an.
Postscheckkonto ?
Scherzen unsererseits.
Wir haben —
Fräulein Schäfer winkt ab, lächelt milde: „Ich werde Sie selbst hinüber-
führen.“
Wir haben nicht verfehlt zu bemerken, daß Fräulein Schäfer etwa zwanzig
Jahre zählt, ein draller Typ, gelb, leidend, mit krank aussehender Haut, kolossalen
Ringen unter den Augen, schwarzem Haar, das sie wie Cleo de Merode über
die Ohren frisiert trägt. Das gibt ihr einen „interessanten“ Anstrich. Bäuer-
liche Herkunft, italienischer Zwischenfall vielleicht, vor langen Zeiten mal
Zigeunerblut. Alle Junggesellen zwischen 40 und 50 werden sich in sie ver-
lieben (interessantes Aussehen!) und — schon deshalb — hierbleiben, in dieser
Siedlung, auf der man sich mittels Vegetarismus, verteufelten Atemübungen
und Singen von Verdauungsliedern zu einem „Erlöser“ emporquälen soll.
*
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Von
Reinhard Goering
14. Mai. —• Gestern sind wir hier angekommen, der Maler und ich. Wir
meldeten uns auf dem Büro. Fräulein Schäfer verhörte uns.
Bereits seit längerer Zeit Vegetarier?
Nein, überhaupt noch nicht.
Schon vom „Meister“ gehört?
Kurz und Ungenügendes.
Ob wir aus Neugier kämen?
Aber durchaus nicht. Wir wollten die Heilslehre kennenlernen und selbst
Erfahrungen machen. Fielen diese gut aus, so wollten wir Anhänger werden.
Fräulein Schäfer bekommt ein abweisendes Gesicht.
übrigens, sage ich schnell hinzu, wir sind mit Klara Linker (einer ver-
rückten Erzieherin) bekannt, und die hat uns so viel Gutes vom „Meister“
erzählt, daß wir den innigen Wunsch haben, diese neue Lehre ernsthaft zu
studieren und wirklich und wahrhaftig Anhänger zu werden, wenn sie uns
befriedigt. Wir sind so unbefriedigt von der Welt im allgemeinen und von
allen Heilslehren im besonderen!
Die Schatten über dem Gesicht der Büroleiterin hellen sich etwas auf. Sie wirft
zwei lange prüfende Blicke auf uns, der Maler sagt ihr mehr zu, ich weniger.
Wie lange wir bleiben wollten.
Drei bis vier Wochen.
Es seien zufällig noch zwei Salons frei in der Baracke.
Gut, die sollten wir haben, probeweise.
Wir geben unsere Personalien an.
Postscheckkonto ?
Scherzen unsererseits.
Wir haben —
Fräulein Schäfer winkt ab, lächelt milde: „Ich werde Sie selbst hinüber-
führen.“
Wir haben nicht verfehlt zu bemerken, daß Fräulein Schäfer etwa zwanzig
Jahre zählt, ein draller Typ, gelb, leidend, mit krank aussehender Haut, kolossalen
Ringen unter den Augen, schwarzem Haar, das sie wie Cleo de Merode über
die Ohren frisiert trägt. Das gibt ihr einen „interessanten“ Anstrich. Bäuer-
liche Herkunft, italienischer Zwischenfall vielleicht, vor langen Zeiten mal
Zigeunerblut. Alle Junggesellen zwischen 40 und 50 werden sich in sie ver-
lieben (interessantes Aussehen!) und — schon deshalb — hierbleiben, in dieser
Siedlung, auf der man sich mittels Vegetarismus, verteufelten Atemübungen
und Singen von Verdauungsliedern zu einem „Erlöser“ emporquälen soll.
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