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Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt — 14.1934

DOI Heft:
Heft 5 - Kriminalistik
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Shaw, Bernard: Zum Thema: Verbrechen und Strafe
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https://doi.org/10.11588/diglit.62258#0407

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Bernhard Shaw
Zum Thema: Verbrechen und Strafe
Rache als Zerstörer des Gewissens
Die Wirkung der Rache oder der Vergeltung von außen ist, das Ge-
wissen des Missetäters sofort zu zerstören. Wenn ich auf der Straße einem
Mann auf die Hühneraugen trete und er jammert oder aufschreit, bin ich
ganz Reue und überschütte ihn mit herzlichen Entschuldigungen. Wenn
er aber mit den Fäusten auf mich losgeht, verwandelt der erste Schlag,
den er austeilt, meine Stimmung vollständig, und ich wende all meine
Energie an, um seinen Augen, seiner Nase und seinem Kiefer das anzutun,
was ich unabsichtlich seinen Zehen antat. Die Rache ist mein, spricht der
Herr, und das bedeutet, daß sie nicht dem Oberstaatsanwalt zusteht. Eine
heftige Strafe, wie zum Beispiel Auspeitschen, läßt kein Gefühl der Reue
aufkommen. Solange ihre Wirkung dauert — und das ist glücklicherweise
nicht sehr lange —, ist ihr Opfer in einer wilden Wut, in der es das Ge-
fängnis in Brand stecken und mit größter Befriedigung Wärter, Inspektor
und Gerichte lebendig darin braten würde, wenn es es könnte.
Gefängnisstrafe gibt anderseits dem Gewissen eine falsche Befriedigung.
Der Verbrecher hat das Gefühl, sein Verbrechen abzuarbeiten, obwohl er
es unfreiwillig tut und jeden Augenblick davonlaufen würde, wenn er nur
könnte. Er gewinnt ein Gefühl der Zahlungsfähigkeit, ohne aufzuhören,
ein Dieb zu sein, wie ein Spieler sich dieses Gefühl dadurch sichert, daß
er seine Schulden bezahlt, ohne aufzuhören, ein Spieler zu sein.
Sühne und moralische Verantwortung
Kein gewöhnlicher Verbrecher wird mir, auch nur für einen Augenblick,
darin zustimmen, daß Strafe ein Irrtum und eine Sünde ist. Seine
Meinung in diesem Punkt ist genau die des Polizisten, der ihn festnimmt;
und wollte ich dies mein Evangelium den Sträflingen in einem Gefängnis
predigen, so würden sie mich viel entschiedener als hoffnungslos Ver-
rückten davon jagen, als wenn ich den Chef der Londoner Kriminalpolizei
darüber befragte.
Strafe ist keine einfache Idee, es ist ein ganzer Ideenkomplex. Strafe
ist nicht nur ein Schimpf, den ein unschuldiger Mensch einem Schuldigen
zufügt und dem der Schuldige mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln
auszuweichen trachtet, sie ist auch eine Abrechnung mit der Seele. Menschen,
die sich schuldig fühlen, sind geneigt, sich selber die Strafe aufzuerlegen,
wenn ihnen niemand diese Arbeit abnehmen will. Obwohl Geständnisse
weniger allgemein sind, als sie sein würden, wenn die Strafen nicht so
seelenzerstörend wären, bilden sie doch keine Überraschung. Vom Stand-
punkt der Verbrecher ist Strafe Sühne; und ihre bittersten Klagen über
Ungerechtigkeit beziehen sich nicht auf den Urteilsspruch, sondern auf
die Unehrlichkeit, daß die Gesellschaft, nachdem sie den Preis des Ver-

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