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Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt — 14.1934

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Heft 1
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Volkslied und Verbrechen
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Bontempelli, Massimo: Man will mir den Tanz verleiden
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https://doi.org/10.11588/diglit.62258#0096

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II.
Die Eltern, in ihrer Blindheit,
Hatten von nichts gewußt:
Violette, seit ihrer Kindheit,
Buhlte um Geld und um Lust!
Sie brauchte das Geld zum
Vergnügen,
Zum Tanzen, zum Bummeln, zum
Spiel;
Sie könnt’ sich mit nichts mehr
begnügen,
Für den Freund war ihr nichts zu
viel.
Die Mutter mühsam man entriß,
Ohne den Gatten, der Finsternis.
Violette hat keinen Gewissensbiß!
(Refrain)
III.
Vor die Mutter, vor Richter in
Roben,
Bringt man sie: Konfrontation!
Violette hebt den Blick nicht vom
Boden
Und jammert: „O Mutter —
pardon!“
„Töte dich!“ — An deiner Bahre
Vergibt dir mein zuckendes Herz.“
So wütet der unmeßbare
Mutter- und Witwenschmerz!
Mit Wut und Ungeduld
Sieht die Welt die Schuld,
Fordert Bestrafung, verweigert
Huld.
Refrain:
Sie ermordet ihre Eltern,
Die gemeine Violette,
Will gestohl’nes Geld behalten,
Lacht sich eins am Totenbett.
In entsetzlicher Verirrung
Hat sie ihnen Gift gebracht:
Löst das Pulver, schaut die Wirkung,
Hat sie grausam tot gemacht.
(Mitgeteilt und übersetzt von Klapphom)

Man will mir den Tanz
verleiden
Tanz ist reines Theater, das heißt
reines „Vergnügen“. Der alte Tanz
war so, und er war äußerst liebens-
wert: akrobatisch, schwierig und heiter.
Die weiblichen Körper, naiv bekleidet,
sprangen und flogen; die Gesichter
machten den Eindruck lächelnder Ruhe.
Seit einiger Zeit setzt auch der Tanz
ein ernstes Gesicht auf. Die Heiterkeit
will man durch den Ausdruck ersetzen,
während der wahre Charakter des
Tanzes die Ausdruckslosigkeit ist.
Heute tanzt man eher mit den Händen
als mit den Füßen, das heißt: man
macht ölige Schlangenbewegungen,
schiebt und stößt die Hände durch die
Luft, wobei man auf die metaphysischen
Gebärden Gewicht legt.
Ein reizvolles Element des alten
Tanzes war, daß er den Eindruck er-
weckte, als würden die Schwierigkeiten
spielend überwunden: heute ist das
genaue Gegenteil der Fall.
Schlimmer: der Ausdruck des Ge-
sichtes hat die Hauptrolle übernommen.
Das Gesicht der früheren Tänzerinnen
hatte die schöne, rosige und unbeweg-
liche Einfalt einer Blume; man hat
diese blasse Stumpfheit durch dauernd
verkrampfte und verzerrte Gesichter
ersetzt, die um so toter erscheinen, je
mehr sie bemüht sind, der tiefe und
geistige Ausdruck menschlicher Gefühle
zu sein.
Hier erreicht der Unsinn den Gipfel.
Die Bewegungen eines Gesichtes sind
nur dann ausdrucksvoll, wenn sie das
Wort begleiten oder vorbereiten oder
ihm folgen. Daraus ergibt sich, daß,
wenn seine Bewegung isoliert oder ab-
strakt bleibt und uns ein Wort sugge-
riert, das wir nicht zu hören be-
kommen, eine Art Wortkadaver ent-
steht. Man denke an den gräßlichen
Anblick eines lebhaften Gesprächs
zwischen zwei Menschen, deren Stimme
wir nicht hören und die wir nur durch
eine Scheibe hindurch sehen.

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