Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt — 14.1934

DOI Heft:
Heft 1
DOI Artikel:
Paulun, Dirks: Die Schuld des Schgalden: schöpferische Mißverständnisse im Quellgebiet des Nibelungenliedes - Winke zur Rekonstruktion eines mittelsächsischen Seyfried-Epos : (ein Gymnasiatenscherz)
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.62258#0093

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Die Schuld des Schgalden
Schöpferische Mißverständnisse im Quellgebiet des Nibelungenliedes — Winke
zur Rekonstruktion eines mittelsächsischen Seyfried-Epos
(Ein Gymnasiastenscherz)

Sächsisches Normaldeutsch. Es ist
schade, daß die Sachsen keinen Dialekt
haben! Sie sprechen ein so normales
Deutsch, daß es sich vom normativen
Hochdeutsch ebenso unterscheidet wie
von allen deutschen Dialekten. Jeder
Nichtsachse glaubt, er verstünde das
Normaldeutsch eines Sachsen. Es läßt
sich aber nur erraten. Dabei kommen
wunderliche Irrtümer zustande.
Ein klassisches Beispiel — noch dazu
eins aus der Wissenschaft — ist die
Geschichte vom Kreuzkraut. Ein alter
Gelehrter, Sachse, hatte sich der Bota-
nik ergeben und hielt Vorlesungen über
die Welt der Kräuter und Unkräuter.
Eins seiner Steckenpferde, seiner Lieb-
lingsunkräuter, hatte von ihm den
lateinischen Namen „Senecio“ erhalten,
weil es weißköpfig war wie ein Greis
— oder vielmehr wie eine ganze Sena-
torenversammlung. Wenn er diese
Pflanze ausnahmsweise mit deutschem
Namen benannte, so bekam man eine
Lautfolge zu hören, die die hoch-
deutsche Schrift nicht genau wieder-
geben kann; man könnte sie etwa
„Kreisgraut“ umschreiben.
Als einige von den Studenten, die zu
Füßen des großen Mannes gesessen
hatten, später selber Lehrstühle bestie-
gen und wissenschaftliche Werke in
deutscher Sprache abfaßten, übersetzten
sie den Namen wieder ins Hoch-
deutsche — und siehe, was einmal
„Greiskraut“ heißen sollte, trägt für
immer den Namen „Kreuzkraut“.
*
Reiselust, Redseligkeit und Sanges-
freudigkeit sind sächsische Tugenden,
die jedem schon ins Auge gefallen sind.
Wir dürfen sie als Stützen einer Hy-
pothese ohne weiteres hinnehmen und
uns sogar darauf verlassen, daß es

damit seit alten Zeiten so gewesen ist
wie heute.
Die Vermutung, die wir im folgen-
den bis zur Wahrscheinlichkeit mit
Proben und Stützen versehen wollen,
ist, kurz gesagt, folgende:
Von dem mythischen Stoff, der dem
mittelhochdeutschen Nibelungen-Epos
zugrunde liegt, sind die ganzen Berichte,
die sich um den burgundischen Königs-
hof, um die Ärgerlichkeiten mit Kriem-
hild und mit Hagen, um die schauer-
lichen Ereignisse im Hunnenland
drehen, nichts anderes als ganz grobe
Mißverständnisse. Die ursprüngliche
Sage ist die nordische vom „hürnen
Seyfried“, der den Drachen tötet und
Brünhild erlöst.
Ein sächsischer Skalde — er selber
nannte sich einen „Schgalden“ — kam
nach dem Norden und vernahm, was
von Seyfried und Fafnir, von Mime
und Brünnhilde berichtet wurde. Er
lauschte auf, er prägte sich alles ein,
er kam nach Hause, und er berichtete
in langen Gesängen, was er gehört
hatte. Seine Landsleute verstanden
ihn —
Als aber unser Skalde mit dem er-
folgreichen Schlager auf eine große
Tournee durch Deutschland zog, da
verstand man ihn nicht mehr so ganz
genau. Es bedurfte verschiedener Über-
setzungen und Umdichtungen, von
denen uns eine erhalten ist: der mittel-
hochdeutsche Versroman.
Es war schon damals Sitte der
Dichter, ihre Plagiate mit einigen eige-
nen Federn zu umkleiden. Da die
Sänger aber gleichzeitig Historiker und
Chronisten waren, gruppierten sie, wie
die späteren Vertreter dieses Berufs,
ihre freien Erfindungen, irgendwelche
Anekdoten und mancherlei schmücken-
des Beiwerk um einige „Quellen", um

4

49
 
Annotationen