Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt
— 14.1934
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https://doi.org/10.11588/diglit.62258#0627
DOI issue:
Heft 8/9 - Utopie U.A.M
DOI article:Eck, Ludwig: Benzin, Aether, Chloroform, Mescalin
DOI Page / Citation link:https://doi.org/10.11588/diglit.62258#0627
enthüllen. Ich würde das Wesen aller Dinge sehen, alle Probleme des
Weltgeschehens lösen. Ich war entsinnlicht. . . Wieder stürmten die Bilder
phantastischer Architekturen auf mich los. Endlose Gänge in maurischem
Stil, alles in fließender Bewegung, wechselten mit erstaunlichen Bildern
merkwürdiger Figuren. Auch Kristallbilder kamen wieder, immer rascher,
immer wechselnder, immer bunter und leuchtender . . . Dann wurden die
Bilder ruhiger, und heraus schälten sich zwei ungeheure kosmische Systeme.
Prachtvoll leuchtend aus eigner Kraft erschienen sie im unendlichen Raum.
Aus ihren Tiefen kamen immer neue Strahlen, immer verklärtere Farben,
und mit zunehmender Vollendung bekamen sie Prismengestalt. Zugleich
damit setzte auch Bewegung ein. Die Systeme näherten sich einander,
zogen sich an und stießen sich ab. Ihre Strahlen brachen sich in unendlich
feinen, zitternden Molekülen auf der mittleren Linie. Diese Linie war
imaginär ... Im Rhythmus muß sich alles lösen, im Rhythmus lag das
letzte Wesen aller Dinge. Kristalle in magischem Glanz mit schillernden
Facetten, abstrakte, erkenntnistheoretische Einzelheiten erschienen hinter
dunstigem, feinem Schleier. Ich stand mitten im Weltgeschehen, im kos-
mischen Erleben, kurz vor der Lösung. Die Unmöglichkeit des letzten
Erfassens war verzweifelnd. Ich war müde und litt unter meinem Körper..“
Die Indianer tanzten und sangen und weinten, weinten sehr! Bis kurz
vor die Lösung leitet das Alkaloid den Adepten. Einmal und zweimal und
hundertmal greift seine Gier nach dem Giftstoff, sehnsüchtig hoffend, daß
einmal die Schranke zerbrechen werde. Immer Lust, immer Taumel, und
immer Enttäuschung zum Schluß. Doch morgen, ja morgen muß das
Mysterium sich auftun! Was gilt da noch das wirkliche Leben? Seine
Uhr ist der Topf mit geisterhaftem Gebräu, seine Zeit ist nach Rausch
und Nichtrausch abgeteilt.
Die Zahl der Sinnestäuschungsmittel ist groß. Den Samojeden, Ost-
jaken, Tungusen und Kamtschadalen dient der gewöhnliche Fliegenpilz,
den Indern, Usbeken und Tartaren der Hanf, den Westeuropäern das
Atropin und Skopolamin. Überall in der Welt, in der angeblich zivilisierten,
kennt man die Morphiumspritze und das zuckerweiße Kokain. Kaum
hatten die Ärzte das segensreiche Chloroform entdeckt, als schon der
Chloroformrausch zum Modelaster wurde. Die Äthersucht terrorisiert das
irische Volk, die kühlen Norweger, die litauischen Bauern und die galizische
Armut. In Irland sind bis 500 Gramm Äther täglich getrunken worden,
pro Kopf, nicht etwa pro hundert Mann. Englische Damen verschlingen
den Kampfer in Pillen, Milch oder Alkohol, um ihre dekadenten Nerven
aufzupulvern. Und neuerdings findet man gar die Unsitte, Benzindampf
einzuatmen, um den lästigen Denkapparat und die niemals schweigenden
Wünsche zu betäuben.
Mit dem Fortschreiten der Wissenschaft wächst die Tabelle der Chemi-
kalien, die den Menschen trösten, belügen und zerstören. Der eine sucht
das Traumidol im Mescalin, Benzin und Atropin, der andere glaubte, den
Stein der Weisen aus der Retorte zu heben. Beiden gemeinsam ist der
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Weltgeschehens lösen. Ich war entsinnlicht. . . Wieder stürmten die Bilder
phantastischer Architekturen auf mich los. Endlose Gänge in maurischem
Stil, alles in fließender Bewegung, wechselten mit erstaunlichen Bildern
merkwürdiger Figuren. Auch Kristallbilder kamen wieder, immer rascher,
immer wechselnder, immer bunter und leuchtender . . . Dann wurden die
Bilder ruhiger, und heraus schälten sich zwei ungeheure kosmische Systeme.
Prachtvoll leuchtend aus eigner Kraft erschienen sie im unendlichen Raum.
Aus ihren Tiefen kamen immer neue Strahlen, immer verklärtere Farben,
und mit zunehmender Vollendung bekamen sie Prismengestalt. Zugleich
damit setzte auch Bewegung ein. Die Systeme näherten sich einander,
zogen sich an und stießen sich ab. Ihre Strahlen brachen sich in unendlich
feinen, zitternden Molekülen auf der mittleren Linie. Diese Linie war
imaginär ... Im Rhythmus muß sich alles lösen, im Rhythmus lag das
letzte Wesen aller Dinge. Kristalle in magischem Glanz mit schillernden
Facetten, abstrakte, erkenntnistheoretische Einzelheiten erschienen hinter
dunstigem, feinem Schleier. Ich stand mitten im Weltgeschehen, im kos-
mischen Erleben, kurz vor der Lösung. Die Unmöglichkeit des letzten
Erfassens war verzweifelnd. Ich war müde und litt unter meinem Körper..“
Die Indianer tanzten und sangen und weinten, weinten sehr! Bis kurz
vor die Lösung leitet das Alkaloid den Adepten. Einmal und zweimal und
hundertmal greift seine Gier nach dem Giftstoff, sehnsüchtig hoffend, daß
einmal die Schranke zerbrechen werde. Immer Lust, immer Taumel, und
immer Enttäuschung zum Schluß. Doch morgen, ja morgen muß das
Mysterium sich auftun! Was gilt da noch das wirkliche Leben? Seine
Uhr ist der Topf mit geisterhaftem Gebräu, seine Zeit ist nach Rausch
und Nichtrausch abgeteilt.
Die Zahl der Sinnestäuschungsmittel ist groß. Den Samojeden, Ost-
jaken, Tungusen und Kamtschadalen dient der gewöhnliche Fliegenpilz,
den Indern, Usbeken und Tartaren der Hanf, den Westeuropäern das
Atropin und Skopolamin. Überall in der Welt, in der angeblich zivilisierten,
kennt man die Morphiumspritze und das zuckerweiße Kokain. Kaum
hatten die Ärzte das segensreiche Chloroform entdeckt, als schon der
Chloroformrausch zum Modelaster wurde. Die Äthersucht terrorisiert das
irische Volk, die kühlen Norweger, die litauischen Bauern und die galizische
Armut. In Irland sind bis 500 Gramm Äther täglich getrunken worden,
pro Kopf, nicht etwa pro hundert Mann. Englische Damen verschlingen
den Kampfer in Pillen, Milch oder Alkohol, um ihre dekadenten Nerven
aufzupulvern. Und neuerdings findet man gar die Unsitte, Benzindampf
einzuatmen, um den lästigen Denkapparat und die niemals schweigenden
Wünsche zu betäuben.
Mit dem Fortschreiten der Wissenschaft wächst die Tabelle der Chemi-
kalien, die den Menschen trösten, belügen und zerstören. Der eine sucht
das Traumidol im Mescalin, Benzin und Atropin, der andere glaubte, den
Stein der Weisen aus der Retorte zu heben. Beiden gemeinsam ist der
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