Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt
— 14.1934
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https://doi.org/10.11588/diglit.62258#0630
DOI Heft:
Heft 8/9 - Utopie U.A.M
DOI Artikel:Benseler, Gustav Franz: Robinson
DOI Seite / Zitierlink:https://doi.org/10.11588/diglit.62258#0630
Es gibt ein Heimweh, davon wissen die zu reden, denen in der Fremde
die Fremde zu weit ist und die sich nach der trauten Enge der Heimat
sehnen — und es gibt ein Fremde-Weh, daran leiden jene, denen die
Heimat zu eng ist und die nach der Weite der Fremde streben.
*
Ein weiterer Traum des Robinson ist „Flucht aus der Zivilisation in
die Natur". Barfußgehen, fellbekleidet, sich nähren von Früchten,
Wurzeln und Kräutern, eine Hütte bauen, irgendwo in meerbeschützter
Einsamkeit, das Wild der Wälder erlegen, angeln, Herr seines Bereiches
sein, sich einen Bart wachsen lassen rings ums ganze Gesicht, vielleicht auf
Wilde stoßen, bessere Menschen, ehrlichere, gerechtere. Der Robinson-
traum ist der Traum nach endlicher irdischer Freiheit in besseren Zonen.
Der Robinson hat das Geschwätz satt, hat die Zeitungen satt, ist das
tägliche Rasieren, Baden, An- und Ausziehen leid, ist es müde, gleich-
gültige Bekannte nach ihrem Befinden zu fragen und Interesse an deren
Geschäften, Ehefrauen, Kindern und Katzen zu heucheln. Der Robinson
pfeift auf alles Geschriebene und Gedruckte, auf Briefe, Telegramme,
Kino, Radio und Theater, auf Matineen, Dinners, five o’clock tea’s und
routs, auf Golf und Tennis, Flirt, Kegel- und Skatbrüder, auf angemalte
Weiber und dickbäuchige Kollegen. Der Robinson ist ein passiver Rebell,
ein resignierender Rebell. Er weiß, er kann die Welt, die ihm mißfällt,
nicht ändern; so flieht er sie.
Nur ganz selten flieht er sie wirklich. Das erträumte Eiland ist nicht
aus dem Meer der eigenen Phantasie emporgestiegen. Er hat seinen Dich-
ter, der den Quartiermeister abgibt und er bezieht ein fertiges Nest. Er
erleidet Seenot und tage- und nächtelanges Herumgeworfenwerden auf
stürmischem Meer nur in seinem bequemen Lehnstuhl, und er wird nicht
müde von den Strapazen, sondern höchstens vom Lesen.
*
Doch man soll nicht glauben, daß Literatur etwas Zufälliges sei. Es
gibt keine wertvolle Literatur, die nicht zeitgebunden wäre, und ein Schrift-
tum, das nicht seine Zeit widerspiegelte, wäre unbedenklich als belanglos
zu verurteilen. Kein Dichter kann Besseres, Wahreres und Wirklicheres
erfinden, als das Erlebnis seiner Zeit mit allen Geschehnissen ihm zuträgt.
Und größer noch als die Tatsachen dieser Geschehnisse sind die der Zeit
eignenden geistigen Strömungen, bedeutungsvoller noch als die äußere
Haltung eines Volkes ist seine seelische Haltung, erschütternder als sein
wirklicher Einsatz sein Glaubenseinsatz. Unter einer friedlichen, geord-
neten Regierung und allgemeinem Wohlstand wird es keine Literatur
geben, die von Auswanderung und Abenteuern träumt, aber ein schlecht
regiertes unglückliches Volk, die Folgeerscheinungen vorlorener Kriege,
Acren der Bedrückungen werden Robinsonaden erfinden.
Die Robinsonade als Literaturgattung ist daher nicht frei von Tendenz,
ja Polemik, sogar Politik. Die Schönheit einer erträumten jungfräulichen,
unberührten Welt wird geschildert, um die Gebrechen der wirklichen,
mißleiteten noch deutlicher zu demonstrieren. Es wird dargetan, wie gut
das Individuum es haben könnte. Es ist eine Rechtfertigung des Indi-
vidualismus. Die Robinsonade als Literatur ist im tiefsten wie alles
idealistische Schrifttum der Schrei nach Gerechtigkeit. Und ist damit
die sonderbarste Form der moralisierenden Tendenzschrift.
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die Fremde zu weit ist und die sich nach der trauten Enge der Heimat
sehnen — und es gibt ein Fremde-Weh, daran leiden jene, denen die
Heimat zu eng ist und die nach der Weite der Fremde streben.
*
Ein weiterer Traum des Robinson ist „Flucht aus der Zivilisation in
die Natur". Barfußgehen, fellbekleidet, sich nähren von Früchten,
Wurzeln und Kräutern, eine Hütte bauen, irgendwo in meerbeschützter
Einsamkeit, das Wild der Wälder erlegen, angeln, Herr seines Bereiches
sein, sich einen Bart wachsen lassen rings ums ganze Gesicht, vielleicht auf
Wilde stoßen, bessere Menschen, ehrlichere, gerechtere. Der Robinson-
traum ist der Traum nach endlicher irdischer Freiheit in besseren Zonen.
Der Robinson hat das Geschwätz satt, hat die Zeitungen satt, ist das
tägliche Rasieren, Baden, An- und Ausziehen leid, ist es müde, gleich-
gültige Bekannte nach ihrem Befinden zu fragen und Interesse an deren
Geschäften, Ehefrauen, Kindern und Katzen zu heucheln. Der Robinson
pfeift auf alles Geschriebene und Gedruckte, auf Briefe, Telegramme,
Kino, Radio und Theater, auf Matineen, Dinners, five o’clock tea’s und
routs, auf Golf und Tennis, Flirt, Kegel- und Skatbrüder, auf angemalte
Weiber und dickbäuchige Kollegen. Der Robinson ist ein passiver Rebell,
ein resignierender Rebell. Er weiß, er kann die Welt, die ihm mißfällt,
nicht ändern; so flieht er sie.
Nur ganz selten flieht er sie wirklich. Das erträumte Eiland ist nicht
aus dem Meer der eigenen Phantasie emporgestiegen. Er hat seinen Dich-
ter, der den Quartiermeister abgibt und er bezieht ein fertiges Nest. Er
erleidet Seenot und tage- und nächtelanges Herumgeworfenwerden auf
stürmischem Meer nur in seinem bequemen Lehnstuhl, und er wird nicht
müde von den Strapazen, sondern höchstens vom Lesen.
*
Doch man soll nicht glauben, daß Literatur etwas Zufälliges sei. Es
gibt keine wertvolle Literatur, die nicht zeitgebunden wäre, und ein Schrift-
tum, das nicht seine Zeit widerspiegelte, wäre unbedenklich als belanglos
zu verurteilen. Kein Dichter kann Besseres, Wahreres und Wirklicheres
erfinden, als das Erlebnis seiner Zeit mit allen Geschehnissen ihm zuträgt.
Und größer noch als die Tatsachen dieser Geschehnisse sind die der Zeit
eignenden geistigen Strömungen, bedeutungsvoller noch als die äußere
Haltung eines Volkes ist seine seelische Haltung, erschütternder als sein
wirklicher Einsatz sein Glaubenseinsatz. Unter einer friedlichen, geord-
neten Regierung und allgemeinem Wohlstand wird es keine Literatur
geben, die von Auswanderung und Abenteuern träumt, aber ein schlecht
regiertes unglückliches Volk, die Folgeerscheinungen vorlorener Kriege,
Acren der Bedrückungen werden Robinsonaden erfinden.
Die Robinsonade als Literaturgattung ist daher nicht frei von Tendenz,
ja Polemik, sogar Politik. Die Schönheit einer erträumten jungfräulichen,
unberührten Welt wird geschildert, um die Gebrechen der wirklichen,
mißleiteten noch deutlicher zu demonstrieren. Es wird dargetan, wie gut
das Individuum es haben könnte. Es ist eine Rechtfertigung des Indi-
vidualismus. Die Robinsonade als Literatur ist im tiefsten wie alles
idealistische Schrifttum der Schrei nach Gerechtigkeit. Und ist damit
die sonderbarste Form der moralisierenden Tendenzschrift.
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