Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt
— 14.1934
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https://doi.org/10.11588/diglit.62258#0428
DOI issue:
Heft 5 - Kriminalistik
DOI article:Fenners, Artur A.: Mord in Sofia
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die Organisation Michailoffs steht heute als Repräsentant aller revolutionären
Kräfte da; das hat Tote gekostet, aber diese Blutopfer waren eine bittere Not-
wendigkeit.
Dieser Art also waren die Hintergründe, wenn in Sofia bis vor kurzem die
Revolverkugeln pfiffen; im letzten halben Jahre nämlich ist es ruhiger geworden.
Für den rechtsuchenden Europäer bleiben noch manche Fragen ungeklärt,
zum Beispiel: warum em Kampf nach innen überhaupt notwendig war, wenn
der völkische Gedanke eine so große Antriebskraft besaß, oder: warum mußte
Protogeroff, der lange Zeit hindurch die aktivsten Kräfte um sich versammelte,
fallen, oder: warum mußte für das kleine Vergehen eines geringfügigen Presse-
angriffes em tatüberzeugter Mensch hingemetzelt werden usw. Aber man
darf die Probleme nicht mit westeuropäischen Augen sehen. Ein Menschen-
leben spielt im nahen Orient keine so große Rolle wie bei uns, die blutgedüngte
Erde bringt einen Nachwuchs von unerhörter Reichlichkeit hervor. Der Ge-
danke ist das Wichtige, nicht der Mensch. Diesem Grundprinzip verdanken
alle Balkanslawen ihre Befreiung und mit diesem Grundsatz wollen auch die
Mazedonier nicht brechen. Bei Licht besehen sind die gesamten Taten dieser
kompromißlosen Hirne leicht verständlich.
Ich habe in meinem ausgedehnten Umgang mit den Balkanvölkern selten
treuherzigere, ehrlichere und hilfsbereitere Leute gefunden als die Mazedonier,
mögen sie im politischen Kampf so skrupellos sein wie sie wollen. Hier zwei
kleine Episoden. Ich wußte, daß die Mazedonier Diebe erbarmungslos auf-
hängen und war um so verwunderter, als ich eines Morgens in Küstendil meinen
Expeditionswagen, den ich in einer offenen Scheune untergestellt hatte, ge-
öffnet und durcheinandergewühlt wiederfand. Es fehlten nur einige Patronen-
päckchen. Der Ortsvorsitzende der mazedonischen Organisation wurde blaß
vor Wut, zwei Stunden lang war halb Küstendil m Aufregung. Dann brachten
Kinder die Patronen zurück, sie hatten damit gespielt. Der Ortsvorsteher aber,
der dortzulande das Ansehen wie der Papst in der katholischen Kirche genießt,
verwalkte die Missetäter auf öffentlichem Markte und es sah mir ganz so aus,
als ob es bei einem wirklichen Diebstahl Tote gegeben hätte.
In Sveti-Vratsch, einer kleinen Ortschaft, nahe der bulgarischen Grenze,
wohnte ich in einem kleinen Hotel von beneidenswerter Sauberkeit. Eines
Tages wurde mir durch den Wirt eine Dame vorgestellt, die, der Landessprache
nicht mächtig, froh war, einen Europäer gefunden zu haben. Es war eine
„Kollegin“, die Mode- und Reiseartikel schrieb; sie kam direkt aus Sofia,
hatte von Mazedonien nichts anderes gesehen, als die Landschaft und einige
Zigeuner. In ihrem Bericht aber erzählte sie, wie gefährlich es in Mazedonien
sei, welchen durchbohrenden Blick die Menschen hätten und daß hinter jedem
dritten Busch ein Komitadschi lauere. Sie saß, bekleidet mit einem rosaroten
tea-gown, auf dem einzigen Balkon des Hauses und erwartete meinen Beifall.
Ich sagte ihr, daß ihr Bericht falsch sei und daß sich das spröde Land dem
Fremden auf einer kurzen Spazierfahrt nicht erschlösse. Wir schieden ohne
überschwengliche Herzlichkeit.
Den Komitadschi m dieser Form der Schablone des Banditen nachzuzeichnen,
scheint der Ehrgeiz aller Sonntagsreisenden zu sein.
*
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Kräfte da; das hat Tote gekostet, aber diese Blutopfer waren eine bittere Not-
wendigkeit.
Dieser Art also waren die Hintergründe, wenn in Sofia bis vor kurzem die
Revolverkugeln pfiffen; im letzten halben Jahre nämlich ist es ruhiger geworden.
Für den rechtsuchenden Europäer bleiben noch manche Fragen ungeklärt,
zum Beispiel: warum em Kampf nach innen überhaupt notwendig war, wenn
der völkische Gedanke eine so große Antriebskraft besaß, oder: warum mußte
Protogeroff, der lange Zeit hindurch die aktivsten Kräfte um sich versammelte,
fallen, oder: warum mußte für das kleine Vergehen eines geringfügigen Presse-
angriffes em tatüberzeugter Mensch hingemetzelt werden usw. Aber man
darf die Probleme nicht mit westeuropäischen Augen sehen. Ein Menschen-
leben spielt im nahen Orient keine so große Rolle wie bei uns, die blutgedüngte
Erde bringt einen Nachwuchs von unerhörter Reichlichkeit hervor. Der Ge-
danke ist das Wichtige, nicht der Mensch. Diesem Grundprinzip verdanken
alle Balkanslawen ihre Befreiung und mit diesem Grundsatz wollen auch die
Mazedonier nicht brechen. Bei Licht besehen sind die gesamten Taten dieser
kompromißlosen Hirne leicht verständlich.
Ich habe in meinem ausgedehnten Umgang mit den Balkanvölkern selten
treuherzigere, ehrlichere und hilfsbereitere Leute gefunden als die Mazedonier,
mögen sie im politischen Kampf so skrupellos sein wie sie wollen. Hier zwei
kleine Episoden. Ich wußte, daß die Mazedonier Diebe erbarmungslos auf-
hängen und war um so verwunderter, als ich eines Morgens in Küstendil meinen
Expeditionswagen, den ich in einer offenen Scheune untergestellt hatte, ge-
öffnet und durcheinandergewühlt wiederfand. Es fehlten nur einige Patronen-
päckchen. Der Ortsvorsitzende der mazedonischen Organisation wurde blaß
vor Wut, zwei Stunden lang war halb Küstendil m Aufregung. Dann brachten
Kinder die Patronen zurück, sie hatten damit gespielt. Der Ortsvorsteher aber,
der dortzulande das Ansehen wie der Papst in der katholischen Kirche genießt,
verwalkte die Missetäter auf öffentlichem Markte und es sah mir ganz so aus,
als ob es bei einem wirklichen Diebstahl Tote gegeben hätte.
In Sveti-Vratsch, einer kleinen Ortschaft, nahe der bulgarischen Grenze,
wohnte ich in einem kleinen Hotel von beneidenswerter Sauberkeit. Eines
Tages wurde mir durch den Wirt eine Dame vorgestellt, die, der Landessprache
nicht mächtig, froh war, einen Europäer gefunden zu haben. Es war eine
„Kollegin“, die Mode- und Reiseartikel schrieb; sie kam direkt aus Sofia,
hatte von Mazedonien nichts anderes gesehen, als die Landschaft und einige
Zigeuner. In ihrem Bericht aber erzählte sie, wie gefährlich es in Mazedonien
sei, welchen durchbohrenden Blick die Menschen hätten und daß hinter jedem
dritten Busch ein Komitadschi lauere. Sie saß, bekleidet mit einem rosaroten
tea-gown, auf dem einzigen Balkon des Hauses und erwartete meinen Beifall.
Ich sagte ihr, daß ihr Bericht falsch sei und daß sich das spröde Land dem
Fremden auf einer kurzen Spazierfahrt nicht erschlösse. Wir schieden ohne
überschwengliche Herzlichkeit.
Den Komitadschi m dieser Form der Schablone des Banditen nachzuzeichnen,
scheint der Ehrgeiz aller Sonntagsreisenden zu sein.
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