Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt
— 14.1934
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https://doi.org/10.11588/diglit.62258#0600
DOI Heft:
Heft 8/9 - Utopie U.A.M
DOI Artikel:Starke, Ottomar: Utopia
DOI Seite / Zitierlink:https://doi.org/10.11588/diglit.62258#0600
die Mannigfaltigkeit der Gesteine, Pflanzen und der Tiere mit den
seltsamen Gepflogenheiten — all dies vermochte den Menschen
nie voll auszufüllen — noch Furcht und Hoffnung, Glaube und
Liebe. — Die Menschen sind Narren! —
Neugierige Narren! — Neugier wäre gut. Die Neugier ist die
Mutter des Wissens. Ohne Neugier hätte kein Jäger je das Wild
aufgebrochen, ausgeweidet und mit Staunen betrachtet. Ohne
Neugier wäre das Gesetz der Zahl nicht gefunden worden, noch
irgendein Gesetz. Aber die Narrheit macht aus der weisen,
sauberen Neugier, die ihr Spielzeug zerbricht, um den Mecha-
nismus zu verstehen, eine hinterlistige Spekulation, die es besser
machen will, die ihr Spielzeug selber erfinden will; und Narrheit
ist deshalb närrisch, weil sie glaubt, alles besser erfinden zu
können, als der Schöpfer tat. — Es ist Trieb und Todesfurcht in
solchem Unterfangen, aber beides übersteigert und aus den
natürlichen Scharnieren gerenkt. Der Schöpfungsplan, der das
Gehirn und seine Funktionen erfand, hat sicher auch mit den
Ausartungen und Übertreibungen dieses Denkvorgangs ge-
rechnet; was den Menschen erschuf, hat auch den Narren er-
schaffen. Auch die Narren sind Gottesgeschöpfe! —
Die Welt war und ist voll von ihnen. Die W elt wird voll von
ihnen sein bis zum Jüngsten Tag. —
Die Narrheit beginnt da, wo der Mensch sich mit dem Ge-
gebenen als Baustoff nicht mehr begnügt. Die Narrheit beginnt
mit dem Eingeständnis der Unfähigkeit, mit dem gegebenen Bau-
stoff auszukommen. Und da deshalb der Narr keine wie immer
geartete Wirklichkeit vorzuweisen hat, verlegt er sich auf die
Verheißung. Und da alle Unfähigen, Denkfaulen und Dummen
mit der platten Wirklichkeit nicht fertig werden, begrüßen sie
den, der Verheißungen gibt, als Propheten und folgen ihm
nach. — Alle diese Prophezeiungen verheißen irgendwelches
„Bessere“: fettere Weiden und fetteres Vieh, größeren Wohl-
stand, schönere Frauen, billigere Lebensbeclingungen, längeres
Leben, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Bereicherung, Straf-
losigkeit, Gerechtigkeit — und weniger Müh und Arbeit — ein
Maximum an Glück bei einem Minimum an Anstrengung.
Und all diese Propheten arbeiten mit der vierten Dimension,
mit dem Übersinnlichen, mit Wundern. Da geh n immer wieder
Jungfrauen mit dem Messias schwanger. Da hat sich der Herr
immer wieder irgendeinem im Traum geoffenbart und ihm die
richtige Reiseroute gegeben. Das Land der Verheißung, das Ge-
lobte, des Thomas Morus Utopia lag noch nie da, wo der Bauer
gerade seine Furchen zog und seinen Samen säte, sondern immer
in irgendeiner blau und goldenen Ferne. Wer Utopia predigt,
erzieht das Volk zu i räumern und Schwärmern.
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seltsamen Gepflogenheiten — all dies vermochte den Menschen
nie voll auszufüllen — noch Furcht und Hoffnung, Glaube und
Liebe. — Die Menschen sind Narren! —
Neugierige Narren! — Neugier wäre gut. Die Neugier ist die
Mutter des Wissens. Ohne Neugier hätte kein Jäger je das Wild
aufgebrochen, ausgeweidet und mit Staunen betrachtet. Ohne
Neugier wäre das Gesetz der Zahl nicht gefunden worden, noch
irgendein Gesetz. Aber die Narrheit macht aus der weisen,
sauberen Neugier, die ihr Spielzeug zerbricht, um den Mecha-
nismus zu verstehen, eine hinterlistige Spekulation, die es besser
machen will, die ihr Spielzeug selber erfinden will; und Narrheit
ist deshalb närrisch, weil sie glaubt, alles besser erfinden zu
können, als der Schöpfer tat. — Es ist Trieb und Todesfurcht in
solchem Unterfangen, aber beides übersteigert und aus den
natürlichen Scharnieren gerenkt. Der Schöpfungsplan, der das
Gehirn und seine Funktionen erfand, hat sicher auch mit den
Ausartungen und Übertreibungen dieses Denkvorgangs ge-
rechnet; was den Menschen erschuf, hat auch den Narren er-
schaffen. Auch die Narren sind Gottesgeschöpfe! —
Die Welt war und ist voll von ihnen. Die W elt wird voll von
ihnen sein bis zum Jüngsten Tag. —
Die Narrheit beginnt da, wo der Mensch sich mit dem Ge-
gebenen als Baustoff nicht mehr begnügt. Die Narrheit beginnt
mit dem Eingeständnis der Unfähigkeit, mit dem gegebenen Bau-
stoff auszukommen. Und da deshalb der Narr keine wie immer
geartete Wirklichkeit vorzuweisen hat, verlegt er sich auf die
Verheißung. Und da alle Unfähigen, Denkfaulen und Dummen
mit der platten Wirklichkeit nicht fertig werden, begrüßen sie
den, der Verheißungen gibt, als Propheten und folgen ihm
nach. — Alle diese Prophezeiungen verheißen irgendwelches
„Bessere“: fettere Weiden und fetteres Vieh, größeren Wohl-
stand, schönere Frauen, billigere Lebensbeclingungen, längeres
Leben, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Bereicherung, Straf-
losigkeit, Gerechtigkeit — und weniger Müh und Arbeit — ein
Maximum an Glück bei einem Minimum an Anstrengung.
Und all diese Propheten arbeiten mit der vierten Dimension,
mit dem Übersinnlichen, mit Wundern. Da geh n immer wieder
Jungfrauen mit dem Messias schwanger. Da hat sich der Herr
immer wieder irgendeinem im Traum geoffenbart und ihm die
richtige Reiseroute gegeben. Das Land der Verheißung, das Ge-
lobte, des Thomas Morus Utopia lag noch nie da, wo der Bauer
gerade seine Furchen zog und seinen Samen säte, sondern immer
in irgendeiner blau und goldenen Ferne. Wer Utopia predigt,
erzieht das Volk zu i räumern und Schwärmern.
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