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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 1.1925-1926

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Rading, Adolf: Stadt, Form, Architekt
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https://doi.org/10.11588/diglit.13211#0014

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Städte sind Ergebnisse, Niederschläge
von Lebensvorgängen. Stadterweiterungen
müssen den Ablauf von Lebensvorgängen
voraussehen.

Man wollte Städtebau besonders in den
letzten Jahrzehnten als etwas „Künst-
lerisches" ansehen und ihn ebenso aus dem
gewöhnlichen Leben herausstellen wie die
sogenannte Kunst selbst. Daß diese Iso-
lierung und Abschnürung von Lebensluft
zur völligen Auflösung geführt hat, sehen
heute immerhin Einige; daß es für den
Städtebau kaum anders liegt, sollte ebenso
klar sein. Für beide liegt Rettung nur in
schleunigster Verknüpfung mit dem Leben.
Es gibt keine Kunst, keine Industrie, keinen
Handel, keinen Städtebau, keine Funktion
des Lebens als Sonderexistenz hinter chine-
sischen Mauern, sie alle können nur le-
bendig sein durch ihre Verknüpfung und
Wechselwirkung.

Praktisches Ergebnis: Es ist zwecklos,
Pläne aufzustellen, wenn nicht gleichzeitig
die Struktur der Wirtschaft ihnen angepaßt
wird. Wer auf sozialer Grundlage unter
Ausschaltung des Gewinnmomentes, auf
dem die Wirtschaft von heute beruht, Stadt-
entwicklung planmäßig festlegen will, muß
die entsprechende allgemeine Wirtschafts-
umstellung fordern, das heißt, einen der
Grundpfeiler gegenwärtiger Wirtschaft, das
Privateigentum, antasten, und die Über-
führung der Stadterweiterungsgebiete in die
öffentliche Hand verlangen.

Solange dies nicht durchzusetzen ist,
müssen derartige Pläne, so gut sie gemeint
sein mögen, in den Plankammern ver-
schimmeln. Man soll sich klar sein, daß
hier auch der Schrei nach dem Gesetz
nichts nützt. Gesetze können nicht beliebig
gemacht werden, auch sie können nicht
außerhalb des Lebens stehen, nicht Gesetze
schaffen das Leben, sondern umgekehrt,
das Leben schafft die Gesetze.

*

Unser Problem ist nicht einfach. Die For-
derung nach Auflösung der großen Stadt
in kleine Einheiten scheint einleuchtend,
Ansiedlung im Flachbau, Seßhaftmachung,
Rückführung zur Natur scheint Förderung

des Lebensglückes. Näherer Retrachtung
jedoch weicht solche Eindeutigkeit.

Die scheinbar zusammenballende große
Stadt isoliert in Wahrheit den Menschen.
Der Einzelne führt unbeachtet seine Son-
derexistenz. Da sich niemand um ihn küm-
mert und er sich selbst helfen muß, ent-
steht unmittelbar durch diese Menschen-
ansammlung und die Art des Zusammen-
lebens ein neuer, wacher und selbständiger
Menschentyp, der, historisch gesehen, am
besten in die Reihe der Nomadenvölker
einzuordnen ist.

Es kann nicht übersehen werden, daß im
Gegensatz zu den seßhaften Hirtenvölkern
immer die Nomadenvölker den Anstoß zur
Entwicklung des Lebens gegeben haben.
Wenn der Städtebauer von heute solche
Entwicklung mit gut oder böse wertet, ist
das kurzsichtig und — zwecklos.

*

Das Leben erweist die Richtigkeit dieses
Exempels. Seit 1917 ist wiederum ein
Nomadenvolk dabei, der Welt ein anderes
Gesicht zu geben. Den Amerikanern ist
das alte Gesetz, daß Rewegung Leben sei,
Wesensbestandteil geworden. Das ist das
Geheimnis ihrer Wirkung, das läßt sie
durch das Automobil eine ganz neue Stadt-
Landkultur ungeahnten Umfanges schaffen.
Ein kurzes Wort über ihre Stadtentvviek-
lung beleuchtet die Situation.

Sie kamen mit festen europäischen For-
men, aber ihre Entwicklung lief anders
und mußte anders laufen, denn sie waren
auf sich selbst angewiesene Menschen ohne
traditionellen Halt. Einflüsse außerhalb des
Ichs — für den Europäer vielfach bestim-
mend — kannten sie nicht. Ihre ältesten
Stadtanlagen lassen überall den europä-
ischen Mittelpunkt erkennen. Nur kurze
Zeit hatte er Redeutung, dann machte das
neue Leben seinen Einfluß geltend und
schuf sich neue Formen. Sie drücken sich
aus in dem üblichen Schachbrettmuster der
amerikanischen Stadtanlage, das die Unter-
lage für die freie, unbeeinflußte Entfaltung
des Individuums gibt. Diese Anlage, die
bei uns nur in der bürgerlich-selbstbewuß-
ten Stadt des Mittelalters eine Parallele
findet, ist für Leben und Wirtschaft dort

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