rückhaltung erscheint manchen als ein Mangel an Kennt-
nissen, aber es geliört nicht destoweniger viel Wiliens-
kraft und Ueberlegung dazu. Giotto wandte in seinen
Wandmalereien aus Instinkt all die Gesetze an, welche
die Größe, das Edle, die erhabene Schönheit, der italie-
nischen Eresken der ersten und zweiten Renaissance
ausmachten.
Nachdem Puvis jahrelang über diese Gesetze nach-
gedacht hatte, ist es ihm zum ersten Mal in seiner „hei-
iige Genoveva“ gelungen, den Typus der modernen
Vvandmalerei bei historischen oder religiösen Motiven
zu verwirklichen. Ihm gebührt der Rulim, darin weiter
und hoher gegangen zu sein, und in seiner Ausmalung
der Sorbonne und der öffentlichen Bibliothek in Boston,
führte er die Eorm der Wandmalerei, abstrakte Ideen
in piastischen Darstellungen wiederzugeben, aus.
Diese erste Aufgabe war nur ein Kinderspiel neben
der zweiten. „In dem Gebiet der Gefühie und der Tat-
sachen“, sagte mir Puvis, „beschränkt sich die Elaupt-
sorge des Künstlers auf eine aufmerksame Wahl unter
den Elementen, mit welchen sein Thema ihn versieht,
und wenn diese Wahl einmal getroffen ist, auf die Arbeit
des Anordnens und der Zusammensetzung, die der farb-
lose, schwache Stoff veriangt. Ganz etwas anderes ist
es im Gebiet der abstrakten ideen. Es existiert natür-
lich ein Eührer, der seit der Renaissance im Gebrauch
der Maler ist, und der die Beredsamkeit, die Philosophie,
den Zweifel, die Gewißheit, die Astronomie, die Geome-
trie, die dramatische, die lyrische Poesie usw. in mehr
oder weniger feinsinnige Allegorien überträgt. Aber wo-
raus ist dieses Register hergestellt? Aus Eormeln, den
Geldstücken vergleichbar, die, da sie von Hand zu Hand
gehen, jedes Ansehen verlieren; außerdem ist es für
unsere Zeit auch genügend abgegriffen und entsetzlich
unvollständig. Um mit den Eroberungen der moder-
nen Wissenschaften Schritt zu halten, gilt es eine voll-
kommen neue Sprache zu schaffen. Versetzen sie sich
in den Geisteszustand eines Mannes, von dem veriangt
wird, die Arbeiten eines Berthelot, eines Chevreul, eines
Pasteur, in deutlichen und klaren Bildern zu veran-
schaulichen. Ich habe mich viele Jahre hindurch in
diesem Geisteszustand befunden. Die Qualen, die er
mir auferlegt hat, sind namenlos und noch niclit beendet.
Ich schwitze Blut und Wasser bei meinen letzten Male-
reien für Boston. Werde ich erreichen, das zu finden,
was ich suche, um der Idee der Chemie oder der Elek-
trizität in Farben und Form die konkrete Gestalt zu
geben? Wird es nur das „Beinahe“ werden? üder
werde ich bis zum Kern gelangen? Kommen Sie in
einein Monat und fragen Sie mich danach.
Und einen Monat später fand ich im Atelier zu
Neuiily die wunderbare Komposition, in der die Elektri-
zität in der edelsten und ergreifendsten Weise bildliche
Gestaltung erlangte. Auf einem Himmel, dessen Bläue
wolkenlos ist, entrollt sich ein Knäuel elektrischer
Drähte. Zwei Figuren fliegen die Drähte entlang. IJie
eine, in Weiß gehüllt, ist die gute Nachricht, die andere,
schwarz verschleiert, die schlechte — und diese Dich-
tung wirkt in hohem Grade genial.
Ich komme zum Schluß. Es bliebe noch genug zu
sagen, wie mir scheint, um der Künstlerphysiognomie
einige Züge hinzuzufügen, welclie sie noch genauer
zeichnen würden. Mir bleibt das Bedauern, nicht mehr
von dem M e n s c h e n sprechen zu können. Eine
kleine Geschichte, in Ermangelung von besserem soll
ihn in seinen wesentlichen Eigenschaften zeigen: in sei-
ner durchdringenden Klarheit, seinem entschlossenen
Geist, und in seiner eiskalten Logik.
An einem schönen Frühlingsabend hatten wir ge-
meinsam in einem Boulevard-Restaurant zu Abend ge-
gessen und gingen darauf zu Euß durch die Champs-
Elysees zurück. Puvis biieb plötzlich stehen. „Dieser
Spaziergang“, sagte er, „erweckt in mir die Erinnerung
an eine der grauenvollsten Stunden meines Lebens. Ich
mußte die Unfähigkeit, die Schwäche einer Regierung
erkennen, die Revolutionen provoziert. Es war im
Jahre 1871 an einem Morgen irn März. Ich hörte plötz-
lich aus der Entfernung einen entsetziichen Lärm. Eine
trunkene Menschenmenge, mit der roten Fahne an aer
Spitze, kam vom Etoile her, und brüllte Beschimpfungen
auf die Bürger. Aber die Führer, kluge Männer, hieiten
sich im Hintergrund, und Frauen und Kinder bildeten
die Spitze des Zuges. Eine klarsehende Regierung, die
sich ihrer Verantwortung bewußt gewesen wäre, hätte
nicht einen Augenblick gezögert. Trompetenstöße, Auf-
forderung an die Menge, sich zu zerstreuen, und wenn
das Voik dem nicht nachgekommen wäre, Schüsse. Es
h.ätte Opfer gegeben, gewiß, aber die Blutströme der
Kommune wären vermieden worden.“
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nissen, aber es geliört nicht destoweniger viel Wiliens-
kraft und Ueberlegung dazu. Giotto wandte in seinen
Wandmalereien aus Instinkt all die Gesetze an, welche
die Größe, das Edle, die erhabene Schönheit, der italie-
nischen Eresken der ersten und zweiten Renaissance
ausmachten.
Nachdem Puvis jahrelang über diese Gesetze nach-
gedacht hatte, ist es ihm zum ersten Mal in seiner „hei-
iige Genoveva“ gelungen, den Typus der modernen
Vvandmalerei bei historischen oder religiösen Motiven
zu verwirklichen. Ihm gebührt der Rulim, darin weiter
und hoher gegangen zu sein, und in seiner Ausmalung
der Sorbonne und der öffentlichen Bibliothek in Boston,
führte er die Eorm der Wandmalerei, abstrakte Ideen
in piastischen Darstellungen wiederzugeben, aus.
Diese erste Aufgabe war nur ein Kinderspiel neben
der zweiten. „In dem Gebiet der Gefühie und der Tat-
sachen“, sagte mir Puvis, „beschränkt sich die Elaupt-
sorge des Künstlers auf eine aufmerksame Wahl unter
den Elementen, mit welchen sein Thema ihn versieht,
und wenn diese Wahl einmal getroffen ist, auf die Arbeit
des Anordnens und der Zusammensetzung, die der farb-
lose, schwache Stoff veriangt. Ganz etwas anderes ist
es im Gebiet der abstrakten ideen. Es existiert natür-
lich ein Eührer, der seit der Renaissance im Gebrauch
der Maler ist, und der die Beredsamkeit, die Philosophie,
den Zweifel, die Gewißheit, die Astronomie, die Geome-
trie, die dramatische, die lyrische Poesie usw. in mehr
oder weniger feinsinnige Allegorien überträgt. Aber wo-
raus ist dieses Register hergestellt? Aus Eormeln, den
Geldstücken vergleichbar, die, da sie von Hand zu Hand
gehen, jedes Ansehen verlieren; außerdem ist es für
unsere Zeit auch genügend abgegriffen und entsetzlich
unvollständig. Um mit den Eroberungen der moder-
nen Wissenschaften Schritt zu halten, gilt es eine voll-
kommen neue Sprache zu schaffen. Versetzen sie sich
in den Geisteszustand eines Mannes, von dem veriangt
wird, die Arbeiten eines Berthelot, eines Chevreul, eines
Pasteur, in deutlichen und klaren Bildern zu veran-
schaulichen. Ich habe mich viele Jahre hindurch in
diesem Geisteszustand befunden. Die Qualen, die er
mir auferlegt hat, sind namenlos und noch niclit beendet.
Ich schwitze Blut und Wasser bei meinen letzten Male-
reien für Boston. Werde ich erreichen, das zu finden,
was ich suche, um der Idee der Chemie oder der Elek-
trizität in Farben und Form die konkrete Gestalt zu
geben? Wird es nur das „Beinahe“ werden? üder
werde ich bis zum Kern gelangen? Kommen Sie in
einein Monat und fragen Sie mich danach.
Und einen Monat später fand ich im Atelier zu
Neuiily die wunderbare Komposition, in der die Elektri-
zität in der edelsten und ergreifendsten Weise bildliche
Gestaltung erlangte. Auf einem Himmel, dessen Bläue
wolkenlos ist, entrollt sich ein Knäuel elektrischer
Drähte. Zwei Figuren fliegen die Drähte entlang. IJie
eine, in Weiß gehüllt, ist die gute Nachricht, die andere,
schwarz verschleiert, die schlechte — und diese Dich-
tung wirkt in hohem Grade genial.
Ich komme zum Schluß. Es bliebe noch genug zu
sagen, wie mir scheint, um der Künstlerphysiognomie
einige Züge hinzuzufügen, welclie sie noch genauer
zeichnen würden. Mir bleibt das Bedauern, nicht mehr
von dem M e n s c h e n sprechen zu können. Eine
kleine Geschichte, in Ermangelung von besserem soll
ihn in seinen wesentlichen Eigenschaften zeigen: in sei-
ner durchdringenden Klarheit, seinem entschlossenen
Geist, und in seiner eiskalten Logik.
An einem schönen Frühlingsabend hatten wir ge-
meinsam in einem Boulevard-Restaurant zu Abend ge-
gessen und gingen darauf zu Euß durch die Champs-
Elysees zurück. Puvis biieb plötzlich stehen. „Dieser
Spaziergang“, sagte er, „erweckt in mir die Erinnerung
an eine der grauenvollsten Stunden meines Lebens. Ich
mußte die Unfähigkeit, die Schwäche einer Regierung
erkennen, die Revolutionen provoziert. Es war im
Jahre 1871 an einem Morgen irn März. Ich hörte plötz-
lich aus der Entfernung einen entsetziichen Lärm. Eine
trunkene Menschenmenge, mit der roten Fahne an aer
Spitze, kam vom Etoile her, und brüllte Beschimpfungen
auf die Bürger. Aber die Führer, kluge Männer, hieiten
sich im Hintergrund, und Frauen und Kinder bildeten
die Spitze des Zuges. Eine klarsehende Regierung, die
sich ihrer Verantwortung bewußt gewesen wäre, hätte
nicht einen Augenblick gezögert. Trompetenstöße, Auf-
forderung an die Menge, sich zu zerstreuen, und wenn
das Voik dem nicht nachgekommen wäre, Schüsse. Es
h.ätte Opfer gegeben, gewiß, aber die Blutströme der
Kommune wären vermieden worden.“
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