Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Donath, Adolph [Hrsg.]
Der Kunstwanderer: Zeitschrift für alte und neue Kunst, für Kunstmarkt und Sammelwesen — 7./​8.1925/​26

DOI Heft:
1/2.Juliheft
DOI Artikel:
Nonn, Konrad: Methoden der Kunstbetrachtung und Erfahrungswissen
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.25878#0493

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Metboden dee Kunfibetcaebtung und ScfabcungsLüttTen

oon

Konvad JHonn

j er Boden, auf dem sich die Gemeinschaft der
Wissenschaften entfaltet, ist die Kant’sche Lehre:
„Erfahrung ist nur durch die Vorstellung einer notwen-
digen Verknüpfung von Wahrnehmungen möglich“. Um
Erkenntnisse auszudrücken, bedienen wir uns der Be-
griffsbezeichnung und in engen Grenzen auch des Wort-
bildes. Auf dem Mißbrauch des Wortbildes und auf der
ungenauen Begriffsfassung beruhen die meisten Irr-
tümer. Der überwiegende Gebrauch des Wortbildes ist
ein Kennzeichen der Symboliker und Dogmatiker einer-
seits, sowie der Dichtkunst, insbesondere der Lyrik, an-
dererseits. Die Anwendung des Wortbildes namentlich
in der Dichtkunst ist eine freie und völlig subjektive. Die
Dogmatik und Symbolik bedienen sich hingegen des
Wortbildes mehr in einem fest umgrenzten Sinne.

In der Kunstwissenschaft ist die einseitig-ästheti-
sche Betrachtung seit längerer Zeit besonders beliebt
worden und hat sich namentlich seit Schmarsow schul-
mäßig entwickelt. Dieser Zweig der Aesthetik läßt
außer Acht, daß Kant den subjektiven Charakter ailer
Aeußerungen des Schönheitsempfindens festgestellt hat.
Schmarsow und seine Nachfolger machen es zu ihrem
Ziele, den sogenannten Ausdrucksinhalt der Kunstwerke
ermitteln zu wollen. Es erscheint wichtig, eine Bewer-
tung dieser Methode an Hand zweier Arbeiten vorzuneh-
men. Die erste ist die Schrift Worringers „Ueber die
Formprobleme der Gotik“ (Pieper, München, 1911), die
dadurch bedeutsam ist, daß außerordentlich viel auf sie
zurückgegriffen wird. Die zweite ist eine der letzten
Folgeerscheinungen der Worringer’schen Arbeit, das
Buch von Ernst Gall über „Die gotische Baukunst
in Frankreich und Deutschland“ (Klinkhard &. Bier-
mann, 1925).

Es werden nachstehend die Hauptgedanken der
Bücher in möglichst ausführlichen Zitaten aufgeführt und
auf die Anwendung oder Nichtanwendung des Kant’schen
Erfahrungssatzes angesehen werden.

Worringer schreibt: „ . . . Je einsichtsvoller ein Ge-
schichtsschreiber ist, umso stärker leidet er . . . an der
Erkenntnis, daß wir die vergangenen Dinge nicht von
ihren, sondern von unseren Voraussetzungen aus auf-
fassen . . . Den Vertretern des naiven historischen
Realismus sind diese Zweifel fremd.“

Er denkt sich die „Ueberwindung des historischen
Realismus und seiner anspruchsvollen Kurzsichtigkeit“
auf folgende Weise: „Da er (der Erkenntnistrieb) weiß,
daß alle Erkenntnis nur mittelbar ist, an das zeitlich be-
dingte Ich gebunden, so gibt es für ihn keine andere Mög-
lichkeit seine historische Erkenntnisfähigkeit auszuwei-
ten, als daß er sein Ich ausweitet. Eine solche Erwei-
terung der Erkenntnisfläche ist nun faktisch nicht mög-
lich, sondern nur durch eine ideelle Hilfskonstruktion,
die rein antithetisch angelegt wird. In den unendlichen

Raum der Geschichte hinein bauen wir von dem festen
Standpunkt unseres positiven Ichs aus eine erweiterte
Erkenntnisfläche durch ideelle Verdoppelung unseres
Ichs um seinen Gegensatz. Denn alle Möglichkeiten der
historischen Erfassung liegen immer nur auf dieser
Kugelfläche, die sicli zwischen unserem positiven, zeit-
lich beschränkten Ich und seinem nur durch ideelle Kom
struktion zugänglichen Gegenpol, dem direkten Kontrast
zu unserem Ich, ausspannt.“

Erkenntnis wird aus der notwendigen Verknüpfung
von Wahrnehmungen gewonnen. Eine Erweiterung
durch Hypothesen geschieht, wenn entweder die Wahr-
nehmungen durch Möglichkeiten ersetzt werden, oder
wenn die Verbindungen zwischen Wahrnehmungen nicht
notwendige, sondern nur wahrscheinliche sind. Aber
die Vorstellungen Worringers vonl positiven Ich, dem
Gegenpol, dem Antipoden, und weiter die Vorstellungen
vom Geschichtsraum, von der Erkenntnisfläche und der
Kugelfläche, auf der sie liegen sollen, sind weder Wahr-
nehmungen noch Möglichkeiten, sondern es sind bildhafte
Vergleiche, deren Begrenzung oder Anwendungszweck
in keiner Weise deutlich gemacht werden. Aber auch
die Verknüpfungen zwischen diesen Vergleichen — ver-
doppeln, ausweiten usw. — sind weder notwendig, noch
wahrscheinlich, sondern willkürlich. Er selbst nimmt
an, daß sie ideell seien. Seine Gedanken iiber die Ver-
doppelung des Ichs, den Gegenpol usw. sind also phan-
tasievolle Wortspielereien. Bezeichnenderweise finden
wir in der Arbeit denn auch keinen Anhaltspunkt dafür,
daß diese Methode der ideellen Ichverdoppelung
irgendwo anzuwenden versucht wäre. Wir begegnen
dem Gegenpol nicht mehr wieder.

Das engere Ziel von Worringers Ermittlungen soll
nun Isein: „Das Wollen, das vorher undiskutierbar war,
wird ihr (der neueren Kunstforschung) also zum eigent-
lichen Forschungsproblem und das Können scheidet als
Wertkriterium gänzlich aus.“ Die undenkbare rrennung
von Ursache und Wirkung ist für Worringer Ziel und
Mittel der Forschung zugleich.

Worringer will weiter die gesamte Kunstwissen-
schaft als Menscliheitspsychologie aufgefaßt wissen und
beschäftigt sich zunächst mit den verschiedenen Typen,
z. B. des primitiven, des nordischen, des orientalischen
Menschen; denn er will dadurch angeblich verläßliche
Anbaltspunkte und feste Maßstäbe gewinnen, mit denen
er. die schließlich zu bestimmenden seelisch-geistigen
Eigenheiten des gotischen Menschen feststellen will.

Der primitive Mensch hätte zu seiner Umgebung
hauptsächlich in einem Furchtverhältnis gestanden, das
ebenso notwendige Verhätnis der Freude Lißt Worrin-
ger unbeachtet. Darum schaffe sich der primitive
Mensch „Symbole des Notwendigen in geometrischen

443
 
Annotationen