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Donath, Adolph [Hrsg.]
Der Kunstwanderer: Zeitschrift für alte und neue Kunst, für Kunstmarkt und Sammelwesen — 7./​8.1925/​26

DOI Heft:
1/2.Juliheft
DOI Artikel:
Nonn, Konrad: Methoden der Kunstbetrachtung und Erfahrungswissen
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https://doi.org/10.11588/diglit.25878#0496

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seine Behauptung aufstellt, daß der Beschauer sich der
angeblichen Gestaltungsgrundsätze nicht bewußt wer-
den s o 111 e. In einem eigenartigen Gegensatz zu sei-
ner Behauptung vom visionären Raumbild steht aber die
andere Behauptung, dem Mittelalter hätte das Bewußt-
sein vom Wert der künstlerischen Tätigkeit um ihrer
selbst willen gefehlt. Das Hinstreben auf ein Raumideal
wäre Kunst um ihrer selbst willen gewesen.

Da der Urkundenbeweis für seine Behauptung vom
visionären Raum nicht nur aussichtslos sondern sein Ge-
lingen sogar unerwünscht war, hätte es weiter einer
Systematik bedurft, um an vorhandenen Bauwerken zu
zeigen, wie man schrittweise dem erstrebten Bauideal
nahe kam. Wir finden denn auch unter den Kapitelüber-
schriften: Zentral-Anlagen, Querhausbauten usw., Schil-
derungen des Raumgefühles der Gotik, wie er es sich
vorstellt. Aber auch diese Raumauffassung ist wiederum
eine rein bildhafte. Er spricht davon, daß das Mittel-
alter einen Raum ,,ganz als Masse“ empfunden habe.
Aucli seine Schilderung der „überraschend erregenden
Stimmung“, die durch die Bauten der Champagne-
Schule geht, bringt keine Erklärung des Begriffes, auch
wenn er den „besonders nervösen Zug“ in den dünn
strähnigen Profilierungen „champagnesk“ nennt. Die
Baukunst nach der Wirkung der ortsüblichen Getränke
zu bewerten, ist eine originelle Neuerung. Alle seine
Ausführungen über Raumwirkungen sind Empfindungen
über „Tiefenbewegungen“, die von einem reich entfalte-
ten Raumbecken aufgenommen werden und von dort
allseitig ausstrahlen usw., alles Wortbilder im oben be-
zeichneten unwissenschaftlichen Sinne.

Weiter ist Gall dem Leser verpflichtet, einen Be-
weis fiir seine Behauptung zu erbringen, daß die tech-
nischen Bedingungen der Wölbungen unmaßgeblich für
die Gliederung des gotischen Kirchenraumes seien und
daß die Drucklinien andere Bahnen folgen, als man
eigentlich annehmen müsse. Er führt diesen angeblichen
Beweis einfach durcli eine polemische Abkehr von den
bisherigen Feststellungen der Wissenschaft, ohne sich
der Mühe der Beweisführung zu unterziehen. Er leug-
net einfach die tatsächlichen Bedingungen der Gewölbe-
konstruktion. Er behauptet, daß die Gewölbe, nament-
lich der frühen Zeit, als homogene Massen anzusehen
seien und glaubt, daß sie daher nur senkrechten Auflage-
druck, aber keinen Schub auf die Widerlager ausgeübt
hätten usw. Einer besonderen Widerlegung dieser Be-
hauptungen bedarf es nicht, zumal sich Gall, wie gesagt,
selbst nicht der Mühe eines Beweises unterzieht.

Es bleibt nun kurz noch seine Stellung zur Ge-
schichts-Wissenschaft klarzulegen. Auf Seite 88/89
stellt er Erwägungen an, um die Stilabschnitte der Kunst-
geschichte zwischen romanischer und gotischer Bau-
kunst nachzuprüfen. Er kommt zum Ergebnis, daß der
Begriff des Uebergansstiles im prägnanten Sinne kaum
eine Berechtigung habe. Darin liegt aber nichts Neues,
wie er und sein Verleger meinen. Denn im Jahre 1885
nahm bereits Karl Scliaefer Veranlassung, sich im Zen-
tralblatt der Bauverwaltung mit Dr. Reimers über die
gleiche Frage auseinanderzusetzen und wies schon da-

mals darauf hin, daß bereits Viollet le Duc von der steti-
gen Entwicklung von der romanischen zur gotischen
Baukunst fest überzeugt gewesen sei. Es wird deshalb
seitdem überhaupt nicht mehr von strengen Stilabschnit-
ten nach Jahren und engeren Begriffen gesprochen. Nur
Gall korrigiert noch solche längst aufgehobenen Grenzen.

Zu einem ähnlichen und ebenso wenig neuen Ergeb-
nis kommt Gall bei seiner zwei Seiten langen Betrach-
tung über Ornamentik, die aus dem gleichen Grundei hin-
fällig ist. Er setzt aber diesem Ornament-Abschnitt die
merkwürdige Behauptung voraus: „Einer Untersuchung
über die Ornamentik im 12. Jahrhundert fehlen die Vor-
arbeiten, die um so nötiger wären, als das Material un-
übersehbar groß ist. Ich kann in diesem Zusammenhang
nur in wenigen Sätzen eine bisherige Entwicklungslinie
punktartig andeuten.“ Wenn er nur das Bücherverzeich-
nis des Berliner Architekten-Vereins eingesehen hätte,
so hätte er allein sechs Seiten Literatur-Nachweise über
mittelalterliche Bauformen-Literatur finden können,
u. a. einen Band des „Handbuches der Architektur“ von
Hasak, in welchem dieser die bekannte Urkunde Bern-
hard's von Clairvaux anführt, der im Jahre 1140 aus-
führliche Bemerkungen über die Ornamentik seiner Zeit
macht, die man mit Recht als unmittelbare Aeußerungen
über die künstlerischen Ziele jener Zeit ansprechen kann.
Gall springt also mit dem geschichtlichen Wissen ebenso
willkürlich um, wie mit dem technischen. Im Rahmen
der angewandten Methode jener Schule ist dies keines-
wegs erstaunlich.

Gall irrt, wenn er glaubt, von der von ihm selbst als
nebelhaft bezeichneten Methode z. B. Dvoraks, der in
den gleichen Kreis gehört, abzurücken und sich mehr der
Wirklichkeit zu nähern; er wirft lediglich nicht auf
die Nebelbilder Dvoraks, sondern auf die Worringers,
seine Verzerrungen des Erfahrungs-Wissensj. Wir
stimmen ihm zu, daß diese Betrachtungsweise die Be-
gleiterscheinung des vor allem literarisch fundierten
Expressionismus ist.

Die gekennzeichnete Methode der schrankenlosen
Verwendung des Wortspieles und der willkürlichen
Auslegung von Begriffen ermöglicht es, willkürliche Ge-
dankenkonstruktionen kaleidoskopartig in beliebiger
Menge hervorzuzaubern, die Methode entbindet von
jeder Selbstkontrolle; man nennt diese Denkweise
autistisch-iundiszipliniert. Sie führt ins
Chaos der durcheinandertreibenden Gefühle und nicht
zur wissenschaftlichen Klarheit. Die Griechen hatten
sich für beide Gegensätze das Syrnbol der vielschwän-
zigen am Boden kriechenden Chimäre und des über sie
hinwegspringenden Bellerophon gebildet.

Bei der Bevorzugung von Allgemeinplätzen wird
bei dem oberflächfichen Leser jerier beiden Bücher die
Selbsttäuschung hervorgerufen, daß alles so schwierig
Geschilderte dem klugen Leser recht leicht verständlich
sei, und es ist weiter bezeichnend für beide Arbeiten,
daß zur Rechtfertigung der Betrachtungsweise unbe-
gründete und abfällige Werturteile über das Erfahrungs-
wissen vorweg genommen werden. Auch über die
eigene Methode werden Urteile von vornherein ausge-

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