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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 23.1913

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Halm, August Otto: Über pathetische Musik
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https://doi.org/10.11588/diglit.26493#0041

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Über pathetische Musik.

ist keine Ratlosigkeit im Außersichsein; die Ergriffen-
heit, das Getragenwerden von der Aufgabe ist sein
Wesen, und die Aufgabe empfinden und wollen ist der
Weg zu solchem Zustand, der voll geistiger Gesundheit,
Besonnenheit und Kraft, fern von Taumel und Schwache
ist: Pathos hat in keiner Weise an Pathologischem teil.
IV.
Wie kommt es nur, daß man so häufig von hohlem
Pathos reden hört? Daß diese beste künstlerische Tugend
in Verdacht gekommen ist und mißachtet wurde?
Nun, diese Frage ist leichter zu beantworten als eine
andere: warum hat das Mißtrauen gegen den pathetischen
Stil gerade die Liebhaber der Musik noch so selten und
in so schwachem Maß ergriffen? Wie anders verhielt
man sich doch der Poesie gegenüber!
Pathos ist selten und schwer; wo es mißlingt, da
haben wir den Eindruck des Hohlen. Es ist aber begehrt,
oder es war lange begehrt, und wurde demgemäß
häufig versucht: Kein Wunder, daß das Eigentliche dis-
kreditiert wurde, da man so lange an seiner Stelle und
unter seinem Namen schwächliche Surrogate dar-
reichen durfte und absetzen konnte.
Dürften wir nun annehmen, daß in der Musik dieses
Eigentliche gefunden, bewahrt und stetig gepflegt
worden sei, und daß deshalb die Achtung vor dem
pathetischen Stil hier unverloren blieb, so wäre alles
klar und gut. Leider aber verhält es sich anders, und
zwar so, daß, wenn die geschichtliche Erfahrung gelten
soll, wir sagen müssen: die Musik scheint die Ansprüche
an die geistige Vornehmheit herabzudrücken, oder das
Sichtäuschen zu begünstigen.
Wie wir schon früher erwähnten, fällt Paul Bekker
in seinem Buch: „Beethoven" ein bemerkenswertes Ur-
teil über die Konatzs packüstiosus; er findet mehr die
Sehnsucht nach dem Erlebnis denn das Erlebnis selbst
in ihr. Das ist ein erstes, schüchternes Absagen, ein
Schimmer von Erkenntnis; Bekker empfindet das Un-
genügen, ohne das jedoch recht Wort haben zu wollen,
ohne diesem Gefühl auf den Grund zu gehen. Und über-
dies täuscht er sich positiv über den Grund, da er das
Erlebnis vermißt.
V.
Ein einzelnes großes Erlebnis, wenn es stark und
tief genug gefühlt wurde, um nachhaltig zu sein, mag
wohl zu dem pathetischen Zustand führen, es mag als
dessen Quelle angesehen werden; aber der pathetische
Zustand selbst ist darum noch nicht die unmittelbare
Quelle des einzelnen Kunstwerks pathetischen Stils;
und noch weniger ist er dessen Inhalt, so als ob dieses
jenen zum Ausdruck brächte.
Musikalisches Pathos ist zuerst und zuletzt eben eine
Angelegenheit der Musik, es beruht auf musikalischen
Eigenschaften und Werten.
Worin es besteht, was sein Wesen ist, vermag ich
nicht zu sagen; es ist eine Art und vielleicht die höchste
Art der Schönheit, von der ein Dürer bekannte, daß er
nicht wisse, was sie sei. Was aber in einer Musik vor-
geht, die mir den Eindruck des Pathetischen macht, kann
ich wohl sagen: es ist ein hochgemutes Sichauswirken
einer angesammelten Kraft. Welche Mittel diese ge-

braucht, um sich auszuwirken, das kann wohl nur im
einzelnen Fall beschrieben und sozusagen gebucht, aber
kaum von vornherein konstruiert werden: ich wenigstens
kenne keine Kompositionsregel, kein Rezept für Pathos.
Ich weiß von hochschwebenden Melodien, z. B. bei
Bach und Bruckner; von einem Rausch der Dissonanzen,
wie am Schluß des ersten Aufstiegs und Aufschwungs
im Finale der vierten Symphonie von Bruckner; ich
weiß, daß eine simple Tonleiter einen Höhepunkt von
Ekstase bedeuten kann: das letztere lehrt mich die herr-
liche Stelle des Adagios der sechsten Symphonie von
Bruckner, wo die Tonleiter, als ob sie nicht enden wollte,
durch drei Oktaven, in langsamen Achteln breit ge-
strichen, zuletzt in Viertel gedehnt, eine wahrhaft er-
schütternde Bedrängnis von Seligkeit schafft — vielleicht
das mächtigere, strahlendere Nachbild eines von Beet-
hoven im Finale der Pastoralsymphonie gestalteten Vor-
bilds — und ich weiß zugleich, daß nicht das Gegenwärtige
allein, sondern das Nachwirken des Vorhergehenden
solchen Stellen den Charakter gibt.
Unter den „Reden und Gleichnissen des Tschuang-
Tse"* befindet sich ein Gespräch über Musik, „das Saiten-
spiel des gelben Kaisers" ist seine Überschrift. Es heißt
da ungefähr — wenn ich wiedergeben darf, was ich zu
verstehen glaube, und weglassen, was mir dunkel ist —,
daß die vollkommene Musik zuerst nach menschlichen
Regeln sich gestalte, sodann aber den Weisungen des
Himmels folge und in Selbsttätigkeit übergehe. In der
Tat, ich wüßte nicht, was über pathetische Musik
Schöneres gesagt werden könnte, und ich vermute, im
Obigen dasselbe nur deutlicher und nüchterner gesagt zu
haben: denn das Sichauswirken einer angesammelten
Kraft ist wohl das, was den Eindruck der Selbsttätigkeit
hervorruft, und daß Regeln der Menschen den Weisungen
des Himmels weichen, ist ein naiv kühnes oder erhaben
gläubiges Ausbeuten des Eindrucks, daß die Musik
durch ihr eigenes und ihr gemäßes Geschehen erstarkt,
daß die Zeit nicht nur der Boden und Tummelplatz
des Tonspiels, sondern ein positiver Faktor, eine treibende
Kraft des lebendigen Tonwesens ist. Vollkommene
Musik geht stets nach musikalischen Gesetzen. Aber das
anhebende Tonwerk steht unter anderem Zeichen als
das voll erwachte und gekräftigte. Es ist durchaus nicht
etwas wie ein kluges Berechnen, ein Aufsparen der
stärksten Mittel, was ich damit meine, daß die groß
wirkende, die triumphierende Musik erst entstehen muß
und nicht schon von Anfang an statthat. Die Musik ist
die Zeit-Kunst; das musikalische Pathos ist die Hohe
Zeit der Musik.
VI.
Ich kenne kein Rezept, um Pathos herzustellen;
wohl aber kenne ich eines, und zwar ein als unfehlbar
bewährtes, uni es nut dem Pathos zu verderben: das
erreicht, wer die Musik beunruhigt, sie zu früh in be-
wegtes Geschehen stürzt, ihr den Atem verstößt. Un-
geduld ist ein Mittel gegen Pathos, Geduld ist zwar
noch kein Mittel für dieses, aber eine seiner Bedingungen,
sie gehört zu der Verfassung, die die hohe Aufgabe for-
dert. Insofern Pathos nicht einfach zitiert werden kann,
* Übersetzt und ausgewählt von Martin Buber, Insel-Verlag-
 
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