Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 23.1913

DOI Artikel:
Benn, Joachim: Thomas Mann und "Der Tod in Venedig"
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.26493#0327

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
homas Mann
und „Der Tod in Venedig".
Der Schöpfer der „Buddenbrocks", des „Tristan" und
der „Fiorenza", Thomas Mann, hat eine neue Novelle
geschrieben, ein Buch im Umfange von etwa anderthalb
hundert Seiten mit dem Titel „Der Tod in Venedig".
Prosadichtungen dieser Länge sind heute verhältnis-
mäßig selten; denn von den wenigen, die überhaupt auf
echte Kunst im Schreiben aus sind, bemühen sich die
meisten nach klassischem Muster um die Novelle von
letzter Konzentration, die selten mehr als zwanzig Seiten
umfaßt, die anderen fügen ohne Rücksicht auf das innere
Ausmaß der Fabel, die sie ihrer Handlung zugrunde
gelegt haben, in ihre Geschichten so viele Schilderungen
und Gespräche ein, daß sie zu breiten Romanen aus-
einanderfließen. Trotzdem hat dieses Maß der größeren
Novelle gewiß gerade heute mehr als nur Berechtigung,
denn einmal wird die Erzählung heute ja in Wahrheit
nicht mehr erzählt sondern gelesen; da das hurtige Auge
mit dem Ablauf der wesentlichen Ereignisse noch leicht
eine Masse schildernder Einzelheiten aufnimmt, wofern
sie gut in die Handlung eingefügt sind, braucht das
spezifisch Erzählerische in der schriftlichen Darstellung
also nur noch so enthalten zu sein wie das gesprochene
Wort im Geschriebenen. Was dann diese sinnlich-
schildernden Einzelheiten angeht, so braucht sie unsere
Zeit bis zu einem gewissen Grade. Denn wir leben
zum mindesten seit Goethe in dem Zeitalter realistischer
Wellforschung, das heutige Auge sieht den Menschen
in ganz anderer Weise als früher in die Natur und ein
Gewebe natürlicher Beziehungen eingebettet; da eine
Dichtung mehr als eine beliebige Geschichte, zugleich
nämlich der Inbegriff der gegenwärtigen Welterkennt-
nis ist, muß das in der Dichtung mit zu erkennen sein.
Wirklich gehören auch gerade die schönsten Schöpfungen
der neueren Dichtung zum nicht geringen Teil dieser
Gattung der breiteren Erzählung an; die schönste bleibt
für Deutsche wohl noch immer Meistens Michael Kohl-
haas, der ein wahrer Husarenritt in die neue deutsche
Dichtung war, von Stifter dürfte die „Mappe meines
Urgroßvaters", vielleicht auch der „Abdias" und die
„Schwestern" hierher zu rechnen sein; an Ausländischen:
funkelt dem ersten Blick einiges aus dem Lebenswerk
Balzacs herüber. Wenn die Verehrer Thomas Manns
sein neues Werk als ein klassisches begrüßen, dürfen wir
also etwas Großes erwarten; wir wissen nun, welche
Daseinsströme zwischen den Deckeln eines Werkes von
anderthalb hundert Seiten eingefangen sein können, mit
strengster Kunst und dem Erfolge, uns für alle Zeit
ein neues Symbol für den Sinn unseres Daseins zu
sein.
Ein Kunstwerk, das als wahrhaft gelungen und damit
als schön empfunden wird, ist ein neuer Naturorganis-
mus, wie eine Blume, ein menschlicher Körper auch:
Untersuchungen über den Bau von Kristallen haben
ergeben, daß sie auf dieselben zahlenmäßigen Verhält-
nisse zurückgehen, wie gewisse musikalische Meisterwerke,
und was hier von der Naturgesetzlichkeit großer Musik
festgestellt worden ist, gilt für die übrigen Künste auch.
Wenn ein neuer literarischer Organismus, eine Er-

zählung etwa, auf ihren Kunstwert beurteilt werden
soll, muß sie danach auf ihre innere Gesetzlichkeit hin
untersucht, wie eine Art Körper abgetastet werden, an
dem Kopf und Glieder im richtigen Verhältnis zu-
einander wohl entwickelt sein sollen, und zu diesem
Zweck soll zum ersten einmal der Inhalt von Thomas
Manns neuem Buche erzählt werden: Im Mittelpunkt
dieses Buches steht ein Dichter reiferen Alters; es ist
ein Mensch, der, nach außen hin eindrucksvoll, ja im-
posant und groß, innerlich aber zerrissen, gequält und
elend, zu den großen Leistungen, die man an ihm be-
wundert, nur durch unsägliche Anstrengungen, durch
eine geizige Sparsamkeit erst kommt, die ihm jeden
Lebensgenuß verbietet, damit er seine geringen Kräfte
schonen kann. Bei Beginn des Buches steht dieser Mann
eben auf der Höhe seiner äußeren Erfolge: In Wahr-
heit zwar geht es ihn: schlechter als je, und sein Leben
ist mehr als je Lüge und Kulisse; denn die unsinnige
Ausmünzung seiner letzten Mittel hat ihn allmählich
in einen Zustand versetzt, daß er bei jedem seiner Sätze
ängstlich bedacht sein muß, die Mühe zu verbergen,
mit der er Wort an Wort setzt, um aus einer Menge
von Einzelinspirationen etwas zusammenzusetzen, was
als ein Ganzes wirkt. Allein nach außen hin ist er der
einwandlos Anerkannte; seine Gesichtszüge sind zu
einer Chiffre geworden, die jedermann kennt, seine
geistige Haltung ein Symbol, das allenthalben verehrt
wird; er ist geadelt, ausgewählte Stücke seines Werkes
werden schon den: Schulunterricht zugrunde gelegt, und
er hat gelernt, persönlich wie als Briefschreiber mehr
als sich, seine Nation zu repräsentieren. Die Handlung
setzt denn damit ein, daß auf einen: Spaziergange in
den: Dichter durch eine zufällige Begegnung unüber-
windliche Reisesehnsucht wachgerufen wird, so daß er,
was noch kaum geschehen ist, wirklich der begonnenen
Arbeit entflieht. Nach mannigfaltigem Suchen findet
er am Badestrand von Venedig Ruhe und dort versinkt
er für einen Knaben, den er nur von Ansehen kennt,
in einer Leidenschaft, über der er in einer Art Nieder-
gangstaumel nach seiner Arbeit nun auch noch seine
Lebenssicherheit vergißt. Der Unglücklich-Glückliche, dem
nach einem Leben strengster Ordnung über dem Anblick
dieser Knabenschönheit jedes Gesetz entschwindet, kommt
den: Knaben niemals nahe, und er will es kaum, weil
er ihm mehr als körperlicher Reiz Sinnbild geistiger
Schönheit ist; dennoch kann er sich nicht von ihm los-
machen. In Venedig bricht Pest aus, aber er bleibt,
und als er auf einem der Gänge dem Knaben nach
erschöpft Erdbeeren zu sich nimmt, stirbt er.
Dieser Handlung gegenüber wird zuerst eine kurze
Erörterung über das Wesen der Künstlergeschichte an
sich notwendig: Den: idealen Leser wohnt nämlich eine
gewisse Skepsis gegen die Künstlergeschichte inne, und
sie hat ihren Grund in der schönsten und tiefsten Auf-
fassung, die es von der Dichtung überhaupt gibt, daß
sie Schicksale schildern solle, die jedes menschliche Herz
erschüttern müssen, weil sie, gleichgültig, in welcher
Sphäre sie spielen, jedes menschliche Herz treffen können.
Wo der Dichter zum Helden das Abbild der eigenen
Person, den Künstler selber und womöglich den Dichter
wählt, bemächtigt sich danach des Lesers unwillkürlich
die Angst, der Künstler könne über seinen eigenen, doch


507

5
 
Annotationen