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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 23.1913

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Rahn, Harry: Er und ich
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Viator: Symbol und Wirklichkeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.26493#0418

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Der Major hielt wenige Schritte vor mir, unbeweglich;
nur die Füße im Steigbügel zuckten immer auf und ab.
Als die Reitermasse bis auf etwa dreihundert Meter
an uns heran war, rief er den Hauptleuten zu: „Auf
hundert Meter lassen Sie feuern." Mein Hauptmann
lief, zitternd vor Atemlosigkeit, zu dem Major hin und
sagte halblaut zu ihm: „Und wenn sie nicht loskommen."
— „So lassen Sie feuern," sagte der Major ganzlaut. —
„Es sind unsere Brüder; Franzosen." — „Sie lassen
feuern." — „Major, ich habe einen Sohn bei den Lan-
ciers." — „Sie — las—sen — feu—ern!" schrie der
Major mit einer fürchterlichen Stimme die Worte
zerdehnend. „Ich — las—se — nicht — feu—ern!"
schrie der Hauptmann ebenso. Der Major riß sein
Pistol aus der Halftertasche und setzte es dem Haupt-
mann an die Schläfe: „Sie weigern sich?" — „Jawohl."
Es knallte, Rauch stieg auf und der Hauptmann brach
zusammen; Blut und Hirn spritzte auf Pferdeleib und
Sattel." — „Wie hieß der Hauptmann?" unterbrach
Bonaparte. — „Vs la Lails." — „Gut; weiter." — „In
den Sekunden des Wortwechsels war die Neitermasse
immer näher gekommen; als der Schuß fiel, war sie
auf kaum mehr als hundert Schritt heran. Durch das
Dröhnen und Klappern hindurch schrie hoch in den
Bügeln der Major selbst: ,Feu—err^. . ."
Der Leutnant hielt inne; sein Gesicht wurde noch
bleicher, fast blau. Bonaparte schien nachzudenken.
„Und da fielen Sie in Ohnmacht?" sagte er, als das
Schweigen gar zu lang dauerte. — „Kleinbürger!" zischte
der Leutnant aus verächtlich verzogenen Lippen. Nur
Bonaparte hörte es: seine Unterlippe schob sich vor,
seine Augenlider zuckten; er schien die Hand heben zu
wollen. Da keuchte, mit einem grellen Klang in der
Stimme, der Leutnant: „Auf das „Feuer" riß ich mein
Pistol heraus und richtete es auf den Major. Im selben
Augenblick hörte ich neben mir einen gemeinen deutschen
Fluch: ein Schuß knallte dicht an meinem Ohr, und der
Major fiel, die rechte Hand im Rücken, vom Pferd.
Es war der Sergeant Wolgast, ein Elsässer, der dümmste
und rohste Kerl des ganzen Bataillons; er und ich . . ."
Die Stimme des Leutnants überschlug sich in einem
schluchzenden Lachen; Tränen stürzten ihm von den
Wimpern. Plötzlich aber flogen, wie von Federn ge-
schnellt, die Arme empor, und ein breiter Blutstrom
brach aus dem Munde, das Bett und das Kreuz auf ihm
bedeckend. Der Feldscher stürzte herzu. Bonaparte
erhob sich und ging zur Tür.
Auf der Straße angelangt, rief er: „Adjutant."
Einer der Leutnants drängte sich, Merktäselchen und
Bleifeder in der Hand, durch die Generale aus dem
Flur. „Schreiben Sie: der Leutnant Vs la Lails,
Gardelanciers, ist, wenn er lebt, zum Train versetzt;
der Sergeant Wolgast, Musketiere dreiundzwanzig, ist,
nach Degradation, standrechtlich zu erschießen. Au
Pferde, meine Herren!" Der Leutnant hielt den Bügel.
Sofort gab Bonaparte die Sporen und galoppierte,
ohne nach dem Gefolge umzublicken, in die fallende
Nacht. Lächelnd und lässig saß er auf dem außerordent-
lich edlen Eisenschimmel. Der Regen hatte aufgehört.
Ein weißer Stern stand, fest und einsam, über der Ebene
von Marengo.

ymbol und Wirklichkeit.
Das deutsche Volk empfindet, daß es in die
Periode des Mannesalters eingetreten ist:
Die Primitivität, Wildheit und Unselbständigkeit der
Kindheit, der Dogmatismus und die schwärmerische
Mystik der Jünglingsjahre liegen hinter ihm, und aus
den Dämmerungen seiner Entwicklung tritt es hinaus
in das nüchterne Tageslicht, in dem nicht mehr Träume,
sondern nur Taten gelten. Der Schwärmer wird zum
Wirklichkeitsmenschen. Der Denker erobert die Welt.
„Diesseitigkeit" ist die Parole.
Damit ist der Weg bezeichnet, den wir seit hundert
Jahren gegangen sind, und niemand kann bestreiten,
daß in dieser Zeit Großes vollbracht wurde. Nie wurde
mehr gearbeitet, nie wurden gewaltigere Energien
bei der Verfolgung eines Zieles eingesetzt, als bei dem
der modernen Welteroberung durch Wissenschaft und
Industrie. Das Angesicht der Erde ist verändert, und die
aus der Neugestaltung des Lebens unabwendbar sich
ergebende Umformung unseres ganzen gesellschaftlichen
Organismus kündigt sich erst an. Es wird der vollen Kraft
von Generationen bedürfen, wenn die völlig neuen Auf-
gaben, die hier die Geschichte stellt, gelöst werden sollen.
Die Geschichte des modernen Menschen setzt sich
zusammen aus einer unabsehbaren Reihe von Einzel-
erfolgen. Ziehen wir aber das Fazit, so ist es negativ.
Die Wirklichkeit ist zu stark für uns. Während wir uns
ihr in jeder Einzelposition überlegen zeigen, verlieren
wir uns an ihre Tausendfältigkeit. Wir haben uns in
sie hinein gestürzt, führerlos, und finden uns nun in
ihr verirrt. Die Massenhaftigkeit der Phänomene ver-
wirrt, erdrückt uns. Alles organische Leben beruht auf
Auswahl, Differenzierung. Das Vermögen dazu aber
geht uns in steigendem Maße verloren, und Hand in Hand
damit schreitet die Zersetzung der Struktur unseres
geistigen und sozialen Lebens fort.
Die Wissenschaft weiß längst, daß eine Kenntnis
der Erscheinungen noch nicht deren geistige Beherrschung
in sich schließt. Ihre Methode ist, mit der Sammlung
von Material zu beginnen, fortzuschreiten zur Zerlegung
des Objekts in seine Elemente, und endlich zur Er-
klärung des Geschehens durch Aufdeckung der es regeln-
den Gesetze. So erhält sie eine beschränkte Reihe ein-
facher Grundtatsachen, mit deren Hilfe sie das Chaos
der Schöpfung entwirrt.
Eine verwandte Erscheinung läßt sich im kommer-
ziellen Leben beobachten: während die Zahl der Ge-
werbe ungeheuer gewachsen ist, hat sich durch Heraus-
schälung und Beherrschung gewisser Elemente des kauf-
männischen Handelns für Einzelpersonen die Möglich-
keit ergeben, sich in einer früher ungeahnten Zahl
verschiedener Industriezweige zu betätigen.
Liegt darin nicht ein Fingerzeig, in welcher Richtung
unsere Erlösung aus geistiger Verwirrung zu suchen ist?
Die Analogie bietet sich leicht: Religion und Poesie
sind die Weisheitslehren, welche die Gesetze des mensch-
lichen Lebens ergründen und die Vielgestaltigkeit der
Einzelerscheinungen zu beherrschen helfen durch die
Schaffung von Typen und Symbolen. (Typen sind
durch Vereinfachung konkreter Erscheinungen gewonnene
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