o« dem Bild
A „Die Frau am Fenster" von Karl Walser.
Warum steht diese Frau am Fenster? Steht sie nur da,
um in die Gegend hinauszuschauen? Oder hat ihr Gefühl sie
an's Fenster geführt, damit sie könne in die Weite hinausdenken?
An was denkt die Dame? An etwas Verlorenes, an etwas un-
wiederbringlich Verlorenes? So scheint es dem zu sein, der mit
aufmerksamen Augen das zarte Bild betrachtet. Weint die Frau,
oder ist sie nahe daran, zu weinen? Hat sie, kurz bevor sie ans
Fenster trat, geweint oder wird sie, wenn sie wird vom Fenster
weggetreten sein, in Tränen ausbrechen? Wer das Bild betrachtet,
hält dies nicht für unmöglich. Hat die Frau, die hier so einsam
an dem Fenster steht, einen Geliebten, und ist nun vielleicht dieser
liebe Freund für immer fortgegangen? Höchst wahrscheinlich.
Also hatte-sie einen Geliebten? Sie hat demnach also seht
keinen holden Freund mehr? Steht nicht die arme liebe Frau da,
als sei, was ihr das Liebste gewesen ist, von ihr weggegangen,
und als bleibe ihr jeht für immer nichts mehr anderes übrig als an
den zu denken, den sie verlor? Ihre Haltung scheint zu sprechen:
„Ich habe ihn, kaum daß er mir gestand, daß er mich liebe, und kaum,
daß ich ihn umhalst und an das Herz gedrückt habe, schon verloren.
Wie grausam ist das."— Was hat ihn denn bewogen, sie zu verlassen,
die er liebte und von der er sich geliebt fand? Hat das Schicksal,
haben die Wogen und Wellen des Lebens, die weder je nach Liebe
noch überhaupt je nach Zartheit fragen, sie getrennt, die sich liebten ?
Das läßt sich denken. Alles Unschöne läßt sich ebensoleicht denken
wie alles Schöne. Vielleicht hat die Frau jetzt noch nicht alle Hoff-
nung auf ein süßes Wiedersehen aufgegeben? Nein, sie hat keine
Hoffnung mehr außer der Hoffnung, weinen zu dürfen, stunden-
lang, und sich im Schmerz, der die Seele erschüttert, zu baden. Für
die Frau, die ihren Freund verloren hat, ist der Schmerz der heim-
liche Freund, und das ist die letzte Art von Freund, die ein Mensch
besitzen kann. Entsetzlicher Freund, bleich im Gesicht, mit dem
furchtbaren Lächeln unauslöschlicher Trauer auf den Lippen,
sage zu der Frau etwas, liebkose sie. Und in der Tat, er tut es:
der Schmerz über die Trennung vom Geliebten muß jetzt der Ge-
liebte sein und sie liebkosen. Vielleicht ist jetzt das Weh des Ver-
lustes noch nicht so groß, wie es nach einem Jahr oder erst nach
zwei Jahren sein wird; denn das Weh kann in der Stille wachsen.
Erst ist es ein zartes Glöckchen mit leisem seufzendem Bim-Bim.
Doch es kann eine Glocke daraus werden mit rasendem, vernunft-
überflutendem Geläute, gemützerstörend, herzzerreißend. Ent-
steht nicht aus der simplen Melodie das gewaltig brausende und
schallende Konzert? Wenn dem so ist, so hat die Frau, die da am
Fenster steht, noch einen schweren Kampf zu kämpfen.
Robert Walser,
»^ungdeutsche Novellen.
Wenn Leo Greiner bei der Sichtung der altdeutschen Novellen-
dichtung zwei Bände von Novellen zusammenbringen konnte, die zu
drei Vierteln wirklich große Kunst darstellen, so dürfte eine Samm-
lung der schönsten neudeutschen Novellen doch etwas umfänglicher
werden: Die Entstehung der neudeutschen Novelle geht darauf zu-
rück, daß Goethe und Schiller in der erklärten Absicht, die Novelle
wieder in deutschem Boden anzupflanzen, aus dem Romanischen
übersetzten, und zwar Goethe eine italienische und eine französische,
Schiller eine der schönsten Novellen Diderots. Schiller hat sich dann
nicht weiter darum bemüht, selber als Novellist etwas zu leisten, wäh-
rend Goethe zahlreiche kleine Erzählungen in seine Romane einschob;
doch hat recht eigentlich Bleibendes auch er nicht geschaffen: „Das
nußbraune Mädchen" ist ebenso wie der „Mann von 50 Jahren"
unvollendet, die „Novelle" in weiten Teilen mühsames Satzgeschiebe
um eine Idee, die sich nicht recht in ein sinnliches Symbol umwandeln
wollte; von einer kleinen Geschichte in den „Wahlverwandtschaften"
abgesehen und etwelchen Rokokoschnitzeln ist einzig „St. Joseph II."
äußerlich vollendet, in seiner Darstellung bei vielen Einzelschön-
heiten, die an Keller gemahnen, durch die Einfügung in den
Roman aber doch wieder zerpflückt. Dennoch war die Bemühung
der Großmeister nicht umsonst, denn schon in der Generation
nach ihnen war die Novelle eine Blume, die in großer Zahl und
reich blühte: Von den älteren Romantikern hat Tieck den unver-
gänglichen „Blonden Ekbert" geschrieben, dem die Arnim und
Brentano einige sehr schöne Stücke folgen ließen, und Kleist machte
sich mit dem „Michael Kohlhaas", der „Marquise von O." und dem
„Erdbeben in Chile" zum Großmeister der neudeutschen Novelle;
daneben hält sich C. T. A. Hoffmann zum mindesten mit drei oder
vier seiner Geschichten, die, ins Impressionistische übergleitend, eine
besondere Provinz im Reich der Novelle bilden, und Stifter und Keller
haben die begonnene Entwicklung in großartiger Weise abgeschlossen.
Die naturalistische Zeit konnte ihrem Wesen nach keine echte
Novelle hervorbringen, und der Impressionismus auch nur da,
wo er, fast zufällig, in seiner Neigung für das Unabgeschlossene,
dem Moment Entrissene in der Darstellung auf einen Stoff ver-
fiel, in dem das Unabgeschlossene Thema wurde: Es mag sein,
daß von Heinrich Mann die in gewissem Sinne meisterhaft ge-
schriebene Geschichte von dem „Fremden" eine Spanne lang
bleibt, wie sich seines Bruders Thomas Witz vom „Kleiderschrank",
nicht ganz so manieriert wie alles übrige, ziemlich fest im Gedächtnis
hält. Dichterischer als beides ist immer noch „Die Fremde" von Arthur
Schnitzler, wo dieser Conferencier des modernen Chelebens plötzlich
von der Skizze her durch die Novelle hindurch fast bis zur Legende
des modernen Liebeslebens fortschreitet, die seiner Sehnsucht stets
vorgeschwebt hat. Allein zeitlos, rein von der Idee aus betrachtet,
sofern das nicht zu große Arroganz bedeutet, und mit scharfem Blick
auf die restlose künstlerische Durchgestaltung wird auch sie kaum
bleiben: Die rechte Entwicklung der jungdeutschen Novelle beginnt
wieder mit Übersetzungen aus dem Romanischen, nämlich mit
Paul Ernsts Übertragungen aus dem Altitalienischen. Unter
dessen eigenen Versuchen mag dann die — sehr schön gebaute —
„Papedöne" doch noch zu archaistisch sein, die neuen sind jedenfalls
zu fleischlos und abstrakt; auch Hofmannsthals „Kaufmannssohn"
mag, zum mindesten rhythmisch, noch zu stark unter fremdem,
nämlick orientalischem Beispiel, stehen: Wassermann ist in seinen
drei „Schwestern" — mehr als in dem neuen Bande vom „Gol-
denen Spiegel" — formal schon sehr frei und dem seelischen Gehalt
nach durchaus Ausdruck unserer Zeit; von jenen „Anekdoten",
die — hier nicht näher zu besprechen — unterm Einfluß von Hebel
sprachlich so durchaus deutsch und im Ilmriß so klassisch abgerundet
sind, darf man die umfänglichsten auch als Novellen einreihen.
Und Jakob Schaffner hat mit der Geschichte vom „Kilometerstein"
und der vom „Einäugigen", aus dem Bande „Die goldene Fratze",
bedeutende Muster geschaffen, wenn sie auch bereits zu einer
anderen Gruppe hinüberlenken:
Denn schon schließt sich an die Generation der Gründer und
ersten Sieger im Kampf um die neue Novelle eine weitere Generation
und es scheint, als wolle die Novelle wieder eine Blume werden,
die in großer Zahl und reich auf deutschem Boden blüht: Was
sich dabei in der älteren Generation zum Teil noch gezwungen,
unfrei und abhängig gibt, will hier noch freier, leichter und selbst-
herrlicher werden; dazu sollen die Mittel der Komposition weiter
verfeinert und kompliziert, inhaltlich das innerste Lebensgefühl
gerade unserer Zeit noch schärfer im Symbol eingefangen werden.
Im vorigen Jahre erschien im Jnselverlag zu Leipzig ein kleiner
Novellenband von dem jungen Rudolf G. Binding; es war ein
Jugendbuch mit den typischen Mängeln eines solchen im Einzel-
ausdruck sowohl wie im Bau, also häufig ohne Maß und letzte Prä-
zision, im ganzen auch ein wenig schmächtig, immerhin in be-
merkenswerter Weise auf Abrundung der Handlung bei kompli-
zierter Linienführung und auf Reduzierung der Handlung auf
symbolische Situationen bedacht: Nun erscheinen drei neue No-
vellenbände, allesamt als Erstlinge junger Dichter und allesamt
bemüht, die Anregungen, die von der älteren Generation ausgingen
und von Schaffner und Binding schon ausgenommen waren,
weiter zu verfolgen. Willy Seidel erweist sich in seinem „Garten
des Schuchan"* freilich sehr bald als ein Talent, das durch sein
Wesen nicht in die Bahn des Novellisten, wie er meint, sondern
in die des Epikers, des Eposschreibers gewiesen wird: Sein tiefstes
Erlebnis knüpft sich sichtlich an Ereignisse ganz elementarer Natur,
womöglich an das grenzenlose, endlose Elementarleben der Natur
selber in den Grundreichen der Pflanzen, der Tiere, bis hinauf zu
dem Staatenleben des Menschen; bei solcher Artung findet er
nicht recht Zugang zu den spezielleren menschlichen Konflikten,
die der Form der Novelle angemessen sind, findet keine novellistischen
Motive, sondern präludiert in geistreichen Fragmenten, bis er in
dem titelgebenden Stück „Der Garten des Schuchan" ein richtiges
kleines Epos aufbaut, wenngleich auch dort die Idee noch etwas
klarer herausgearbeitet sein könnte. Aber Bernd Jsemann mit
seinen „Lothringer Novellen"^, Georg Munk in seinen „unechten
Kindern Adams"* dichten wirklich Novellen.
Bernd Jsemann immer noch nicht so sehr wie Georg Munk:
Obwohl er in zweien seiner vier Geschichten entzückende Motive
* Insel-Verlag, Leipzig, s S. Fischer, Berlin.
A „Die Frau am Fenster" von Karl Walser.
Warum steht diese Frau am Fenster? Steht sie nur da,
um in die Gegend hinauszuschauen? Oder hat ihr Gefühl sie
an's Fenster geführt, damit sie könne in die Weite hinausdenken?
An was denkt die Dame? An etwas Verlorenes, an etwas un-
wiederbringlich Verlorenes? So scheint es dem zu sein, der mit
aufmerksamen Augen das zarte Bild betrachtet. Weint die Frau,
oder ist sie nahe daran, zu weinen? Hat sie, kurz bevor sie ans
Fenster trat, geweint oder wird sie, wenn sie wird vom Fenster
weggetreten sein, in Tränen ausbrechen? Wer das Bild betrachtet,
hält dies nicht für unmöglich. Hat die Frau, die hier so einsam
an dem Fenster steht, einen Geliebten, und ist nun vielleicht dieser
liebe Freund für immer fortgegangen? Höchst wahrscheinlich.
Also hatte-sie einen Geliebten? Sie hat demnach also seht
keinen holden Freund mehr? Steht nicht die arme liebe Frau da,
als sei, was ihr das Liebste gewesen ist, von ihr weggegangen,
und als bleibe ihr jeht für immer nichts mehr anderes übrig als an
den zu denken, den sie verlor? Ihre Haltung scheint zu sprechen:
„Ich habe ihn, kaum daß er mir gestand, daß er mich liebe, und kaum,
daß ich ihn umhalst und an das Herz gedrückt habe, schon verloren.
Wie grausam ist das."— Was hat ihn denn bewogen, sie zu verlassen,
die er liebte und von der er sich geliebt fand? Hat das Schicksal,
haben die Wogen und Wellen des Lebens, die weder je nach Liebe
noch überhaupt je nach Zartheit fragen, sie getrennt, die sich liebten ?
Das läßt sich denken. Alles Unschöne läßt sich ebensoleicht denken
wie alles Schöne. Vielleicht hat die Frau jetzt noch nicht alle Hoff-
nung auf ein süßes Wiedersehen aufgegeben? Nein, sie hat keine
Hoffnung mehr außer der Hoffnung, weinen zu dürfen, stunden-
lang, und sich im Schmerz, der die Seele erschüttert, zu baden. Für
die Frau, die ihren Freund verloren hat, ist der Schmerz der heim-
liche Freund, und das ist die letzte Art von Freund, die ein Mensch
besitzen kann. Entsetzlicher Freund, bleich im Gesicht, mit dem
furchtbaren Lächeln unauslöschlicher Trauer auf den Lippen,
sage zu der Frau etwas, liebkose sie. Und in der Tat, er tut es:
der Schmerz über die Trennung vom Geliebten muß jetzt der Ge-
liebte sein und sie liebkosen. Vielleicht ist jetzt das Weh des Ver-
lustes noch nicht so groß, wie es nach einem Jahr oder erst nach
zwei Jahren sein wird; denn das Weh kann in der Stille wachsen.
Erst ist es ein zartes Glöckchen mit leisem seufzendem Bim-Bim.
Doch es kann eine Glocke daraus werden mit rasendem, vernunft-
überflutendem Geläute, gemützerstörend, herzzerreißend. Ent-
steht nicht aus der simplen Melodie das gewaltig brausende und
schallende Konzert? Wenn dem so ist, so hat die Frau, die da am
Fenster steht, noch einen schweren Kampf zu kämpfen.
Robert Walser,
»^ungdeutsche Novellen.
Wenn Leo Greiner bei der Sichtung der altdeutschen Novellen-
dichtung zwei Bände von Novellen zusammenbringen konnte, die zu
drei Vierteln wirklich große Kunst darstellen, so dürfte eine Samm-
lung der schönsten neudeutschen Novellen doch etwas umfänglicher
werden: Die Entstehung der neudeutschen Novelle geht darauf zu-
rück, daß Goethe und Schiller in der erklärten Absicht, die Novelle
wieder in deutschem Boden anzupflanzen, aus dem Romanischen
übersetzten, und zwar Goethe eine italienische und eine französische,
Schiller eine der schönsten Novellen Diderots. Schiller hat sich dann
nicht weiter darum bemüht, selber als Novellist etwas zu leisten, wäh-
rend Goethe zahlreiche kleine Erzählungen in seine Romane einschob;
doch hat recht eigentlich Bleibendes auch er nicht geschaffen: „Das
nußbraune Mädchen" ist ebenso wie der „Mann von 50 Jahren"
unvollendet, die „Novelle" in weiten Teilen mühsames Satzgeschiebe
um eine Idee, die sich nicht recht in ein sinnliches Symbol umwandeln
wollte; von einer kleinen Geschichte in den „Wahlverwandtschaften"
abgesehen und etwelchen Rokokoschnitzeln ist einzig „St. Joseph II."
äußerlich vollendet, in seiner Darstellung bei vielen Einzelschön-
heiten, die an Keller gemahnen, durch die Einfügung in den
Roman aber doch wieder zerpflückt. Dennoch war die Bemühung
der Großmeister nicht umsonst, denn schon in der Generation
nach ihnen war die Novelle eine Blume, die in großer Zahl und
reich blühte: Von den älteren Romantikern hat Tieck den unver-
gänglichen „Blonden Ekbert" geschrieben, dem die Arnim und
Brentano einige sehr schöne Stücke folgen ließen, und Kleist machte
sich mit dem „Michael Kohlhaas", der „Marquise von O." und dem
„Erdbeben in Chile" zum Großmeister der neudeutschen Novelle;
daneben hält sich C. T. A. Hoffmann zum mindesten mit drei oder
vier seiner Geschichten, die, ins Impressionistische übergleitend, eine
besondere Provinz im Reich der Novelle bilden, und Stifter und Keller
haben die begonnene Entwicklung in großartiger Weise abgeschlossen.
Die naturalistische Zeit konnte ihrem Wesen nach keine echte
Novelle hervorbringen, und der Impressionismus auch nur da,
wo er, fast zufällig, in seiner Neigung für das Unabgeschlossene,
dem Moment Entrissene in der Darstellung auf einen Stoff ver-
fiel, in dem das Unabgeschlossene Thema wurde: Es mag sein,
daß von Heinrich Mann die in gewissem Sinne meisterhaft ge-
schriebene Geschichte von dem „Fremden" eine Spanne lang
bleibt, wie sich seines Bruders Thomas Witz vom „Kleiderschrank",
nicht ganz so manieriert wie alles übrige, ziemlich fest im Gedächtnis
hält. Dichterischer als beides ist immer noch „Die Fremde" von Arthur
Schnitzler, wo dieser Conferencier des modernen Chelebens plötzlich
von der Skizze her durch die Novelle hindurch fast bis zur Legende
des modernen Liebeslebens fortschreitet, die seiner Sehnsucht stets
vorgeschwebt hat. Allein zeitlos, rein von der Idee aus betrachtet,
sofern das nicht zu große Arroganz bedeutet, und mit scharfem Blick
auf die restlose künstlerische Durchgestaltung wird auch sie kaum
bleiben: Die rechte Entwicklung der jungdeutschen Novelle beginnt
wieder mit Übersetzungen aus dem Romanischen, nämlich mit
Paul Ernsts Übertragungen aus dem Altitalienischen. Unter
dessen eigenen Versuchen mag dann die — sehr schön gebaute —
„Papedöne" doch noch zu archaistisch sein, die neuen sind jedenfalls
zu fleischlos und abstrakt; auch Hofmannsthals „Kaufmannssohn"
mag, zum mindesten rhythmisch, noch zu stark unter fremdem,
nämlick orientalischem Beispiel, stehen: Wassermann ist in seinen
drei „Schwestern" — mehr als in dem neuen Bande vom „Gol-
denen Spiegel" — formal schon sehr frei und dem seelischen Gehalt
nach durchaus Ausdruck unserer Zeit; von jenen „Anekdoten",
die — hier nicht näher zu besprechen — unterm Einfluß von Hebel
sprachlich so durchaus deutsch und im Ilmriß so klassisch abgerundet
sind, darf man die umfänglichsten auch als Novellen einreihen.
Und Jakob Schaffner hat mit der Geschichte vom „Kilometerstein"
und der vom „Einäugigen", aus dem Bande „Die goldene Fratze",
bedeutende Muster geschaffen, wenn sie auch bereits zu einer
anderen Gruppe hinüberlenken:
Denn schon schließt sich an die Generation der Gründer und
ersten Sieger im Kampf um die neue Novelle eine weitere Generation
und es scheint, als wolle die Novelle wieder eine Blume werden,
die in großer Zahl und reich auf deutschem Boden blüht: Was
sich dabei in der älteren Generation zum Teil noch gezwungen,
unfrei und abhängig gibt, will hier noch freier, leichter und selbst-
herrlicher werden; dazu sollen die Mittel der Komposition weiter
verfeinert und kompliziert, inhaltlich das innerste Lebensgefühl
gerade unserer Zeit noch schärfer im Symbol eingefangen werden.
Im vorigen Jahre erschien im Jnselverlag zu Leipzig ein kleiner
Novellenband von dem jungen Rudolf G. Binding; es war ein
Jugendbuch mit den typischen Mängeln eines solchen im Einzel-
ausdruck sowohl wie im Bau, also häufig ohne Maß und letzte Prä-
zision, im ganzen auch ein wenig schmächtig, immerhin in be-
merkenswerter Weise auf Abrundung der Handlung bei kompli-
zierter Linienführung und auf Reduzierung der Handlung auf
symbolische Situationen bedacht: Nun erscheinen drei neue No-
vellenbände, allesamt als Erstlinge junger Dichter und allesamt
bemüht, die Anregungen, die von der älteren Generation ausgingen
und von Schaffner und Binding schon ausgenommen waren,
weiter zu verfolgen. Willy Seidel erweist sich in seinem „Garten
des Schuchan"* freilich sehr bald als ein Talent, das durch sein
Wesen nicht in die Bahn des Novellisten, wie er meint, sondern
in die des Epikers, des Eposschreibers gewiesen wird: Sein tiefstes
Erlebnis knüpft sich sichtlich an Ereignisse ganz elementarer Natur,
womöglich an das grenzenlose, endlose Elementarleben der Natur
selber in den Grundreichen der Pflanzen, der Tiere, bis hinauf zu
dem Staatenleben des Menschen; bei solcher Artung findet er
nicht recht Zugang zu den spezielleren menschlichen Konflikten,
die der Form der Novelle angemessen sind, findet keine novellistischen
Motive, sondern präludiert in geistreichen Fragmenten, bis er in
dem titelgebenden Stück „Der Garten des Schuchan" ein richtiges
kleines Epos aufbaut, wenngleich auch dort die Idee noch etwas
klarer herausgearbeitet sein könnte. Aber Bernd Jsemann mit
seinen „Lothringer Novellen"^, Georg Munk in seinen „unechten
Kindern Adams"* dichten wirklich Novellen.
Bernd Jsemann immer noch nicht so sehr wie Georg Munk:
Obwohl er in zweien seiner vier Geschichten entzückende Motive
* Insel-Verlag, Leipzig, s S. Fischer, Berlin.