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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 23.1913

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Treu, Reinhold: Richard Dehnel
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https://doi.org/10.11588/diglit.26493#0447

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(Wichard Dehmel.
Wenn wir am 18. November d. I. den fünf-
zigsten Geburtstag Richard Dehmels feiern —
und es werden viele in Deutschland sein, die das tun —,
ist es in einem andern Sinn ein Jubiläum des deutschen
Geistes, als es im vorigen November der fünfzigste
Geburtstag von Gerhart Hauptmann war; obwohl
die Deutung nahe läge, daß nun nach dem führenden
Dramatiker von Jungdeutschland der führende Lyriker
in das Jubliäumsalter einrückte. Rein äußerlich schon
ist Dehmel durchaus nicht nur der Lyriker, wie Gerhart
Hauptmann trotz seiner erzählenden Werke der Schau-
spieldichter bleibt; innerlich verglichen aber ergibt sich
bald die Merkwürdigkeit, daß nicht er, der lyrische Dichter,
sondern jener, der Dramatiker, der Gefühlsträger aus
der Werdezeit der modernen deutschen Dichtung ist,
während im Lyriker die Macht des Geistes lag, jener
Gefühle mächtig zu werden.
Sehen wir heute auf den Anfang der neunziger
Jahre zurück, so läßt sich als treibendes Gefühl der
damaligen Literaturbewegung eine Zweiheit feststellen,
die irgendwie eins bedeutete: Naturalismus und Sozialis-
mus waren als Form und Sinn die herrschenden Ge-
fühlsmächte, die sich gegen die veräußerlichte Gesinnung
der achtziger Jahre, gegen das Zeitalter von Julius
Wolf und l'Arronge erhoben; trotz aller hitzigen Abhand-
lungen und Reden über die Kunstform galt es eine ethische
Bewegung, als deren Ziel die Befreiung der Dichtung
aus Unnatur und Unmündigkeit gesetzt war: eine wirk-
liche Empörung des RechUichkeitsgefühls, das eine
neue Moral der Dichtung verlangte und seine Ideale
in der Darstellung einer sogenannten Wirklichkeit mit
der Forderung würdigerer Zustände dieser selben
Wirklichkeit hitzig vermischte. Nur so ist ein Mißverständ-
nis zu erklären, wie es diese Zeit mit Sudermanns
„Ehre" hatte, die im Jahre 1898 den Moralprediger
Graf Trast über die deutschen Bretter gehen ließ,
und deren Erfolg damals als Sieg der modernen Be-
wegung aufgefaßt wurde. Ihren wirklichen Ausdruck
fand sie freilich erst mit den „Webern" (1892), deren
Dichter Gerhart Hauptmann sich immer mehr als
Apostel dieses ethischen Aufstandes in den Vordergrund
stellte, um mit den Jahren als eine viel weniger robuste
aber auch feinere Dichtergestalt übrig zu bleiben.
Ein Jahr später als dieses Hauptwerk des schlesischen
Dichters, in dem sich Wirklichkeitsdarstellung und soziale
Tendenz im Sinn der damaligen Zeit am reinsten einigten
und ihren stärksten künstlerischen Niederschlag fanden,
erschien das Buch von Richard Dehmel, dessen Titel
schon dem Zeitgefühl mit programmatischer Schärfe
widersprach: „Aber die Liebe!"
Damit war nicht die moderne Spielart der christlichen
Liebe gemeint, die aus Mitleid, Gerechtigkeitsgefühl
und Anklagen ihre Tränke mischte; Venus selber stand
wieder da und ein wildes Menschenherz gab sich daran,
ihrem Erlebnis in allen Verwandlungen nachzujagen.
Doch kam sie nicht aus dem Venusberg des modernen
Tannhäusers; das erste Buch des Dichters hatte „Er-
lösungen" geheißen, und mit einer Inbrunst, wie sie
bis dahin nur in der religiösen Ekstase erlebt war, ver-

suchte er in seinem neuen Buch die erlösende Macht der
Liebe. Den Zeitgenossen war dieser trotzige Frager,
der in allen Genüssen der Liebe nach dem Geheimnis
suchte, zunächst keine angenehme Erscheinung; aber
gerade, weil die Frage der menschlichen Gemeinsamkeit
die Gemüter so tief ergriffen hatte, mußte die Gegen-
frage der menschlichen Einsamkeit gestellt werden.
Sie konnten als Mitmenschen einander bei den Händen
fassen und sich Brüder und Schwestern heißen, so innig
sie vermochten, darum blieb die einzelne Seele doch
allein mit ihrem Körper und an seine Triebe gebunden
in der Unendlichkeit: in die allgemeine Empfindsamkeit
der sozialen Nöte brach der Aufschrei der menschlichen
Kreatur, die in ihren eigenen Leiden und Beglückungen
sehnsüchtig nach Erfüllung suchte, die sich ohne „über-
menschlichen" Hochmut mit den Trieben und Lüsten
ihrer geborenen Natur im Weltall finden, nicht in der
asketischen Abkehr von sich Erlösung finden wollte.
-i- *
*
Die zwanzig Jahre seitdem haben der Stimme des
Dichters einen unmeßbaren Anklang gegeben; es ist
unmöglich, heute ein neues Dichtungsbuch von irgend-
welchem Rang in Deutschland zu finden, das seines
Geistes nicht eine deutliche Spur trüge. Nicht, als ob
er für sich und seine Nachfahren mit den Ekstasen seiner
Sehnsüchte die soziale Frage abgelöst hätte; er hat sie
tiefer, geistiger gestellt und das einzelmenschliche Scbicksal
aufgedeckt, daraus sie eine andere Antwort finden mußte
als die des Mitleids und der Selbstentäußerung; er ist
auf die Lebensgründe gekommen, wo wir in einem
tieferen Sinn als dem der sozialen Verbrüderung
eins sind; er hat — drastisch gesagt — in sich selber den
Mitmenschen gefunden und von da aus den Glauben
an einen „Himmel auf Erden" sicherer zu stellen versucht,
als er in den Schwärmereien sozialer Erlösungsapostel
lebte.
Das war die Sendung dieses Dichters, der mehr als
einer vor ihm verlacht und verhöhnt wurde, dem die
empörten Anstandsbehüter, Schnüffler und Denunzianten
den Vorwurf der sexuellen Lüsternheit und sogar die
richterliche Verfolgung nicht ersparten und dem es erst
mit seinem „Roman in Romanzen": Zwei Menschen
gelang, sich aus dem Fluch der Lächerlichkeit zu be-
freien. Aus dieser Sendung hat es seine besondere Be-
deutung, daß nun die ehemals verhöhnten Werke des
Fünfzigjährigen dem deutschen Volk in drei Auswahl-
bänden von neuem auf den Tisch gelegt werden.* Es
ist nun schon zum zweitenmal, daß Richard Dehmel
mit Gesammelten Werken auftritt, und man hat dem
Dichter diese Prätention schon beim erstenmal verübelt.
Wer seine Bücher nur als Dokumente einer Persönlichkeit
auffaßte, dem mochte dieser vorzeitige Aufwand be-
fremdlich scheinen, wer sie im Sinn unserer Betrachtung
als wesentliche Triebkräfte der Entwicklung fühlte, dem
mußte es gerechtfertigt sein, daß sie, nachdem ihre
Sendung vollendet war, dem deutschen Volk noch einmal
* Richard Dehmel: Gesammelte Werke, in drei Leinenbänden
gebunden 12,50 Mark, in Kalbleder 16 Mark. (Verlag S. Fischer,
Berlin.)
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