Theaterbesucher hinzugibt, damit er seine Belustigung oder Er-
schütterung haben kann — und das legt von selber die Frage nahe,
ob diese Aufwendungen überhaupt noch berechtigt sind. Daß sie
wohl kaum um der Kunst willen, sondern mehr — soweit die Städte
in Frage kommen — aus Gründen des Fremdenverkehrs und der
Repräsentation fließen, dürfte dabei von vornherein sicher sein.
Julius Bab hat den Grund dieses Niederganges oder besser
dieser Niederlage im unsozialen Dasein der Bühnen zu finden ge-
glaubt, und so ist er konsequent, eine Besserung von den Volks-
bühnen aus zu erwarten, wo — wie er an der Berliner Volks-
bühne dartut — im Anfang das Publikum da ist, das Theater also
tatsächlich das Bedürfnis einer Masse erfüllen muß, statt mit allen
möglichen Mitteln in der Masse zu fischen. Damit wären aber
die Bühnen im allgemeinen nicht weniger überflüssig; denn ich
möchte die Stadt genannt haben, die sich außer Berlin eine eigene
Volksbühne leisten kann.
Mir scheint die logische Folgerung vielmehr die zu sein, daß
die Theater an ihrer Alltäglichkeit leiden; es ist jeden Abend etwas
los in ihnen, aber es sind keine Leute da, die jeden Abend darauf
warten: auch die Kirche ist eine moralische Anstalt, die — einen
guten Prediger vorausgeseht — immer noch auf Zuspruch rechnen
kann; aber der beste Prediger versuche einmal, jeden Tag zu pre-
digen. Natürlich weiß ich genau, wie die Katze beim Theater sich
in den Schwanz beißt: um die Gagen eines Ensembles zahlen zu
können, ist die möglichste Ausnutzung nötig. Aber hier muß die
einfache Frage aufstehen: Warum müssen denn all die Städte in
unserem deutschen Vaterland ihr eigenes Ensemble haben? Ich
behaupte, das Düsseldorfer Schauspielhaus reicht aus, um das
wirkliche Bedürfnis nach einem ernsthaften Schauspiel in Krefeld,
Essen, Duisburg, Elberfeld, Barmen mit zu befriedigen. Warum
aber muß jede dieser Städte ein eigenes Ensemble haben, das
sich nur durch eine rastlose Novitätenhetze ein spärliches Publikum zu
erhalten vermag? Nicht, daß ich damit etwa für Düsseldorf eine
Extrawurst verlangte, ich gönne jeder Stadt „Unfern Helden-
spieler" und „Unsere Primadonna", und meinetwegen dürfte sich
das Schauspielhaus auch in Neuß etablieren: ich will nur an diesem
Beispiel behaupten, daß unser Bühnenwesen seinen Bestand an
Dichtern, Regisseuren, Dramaturgen, Helden, Liebhaberinnen
und komischen Alten ohne Schaden, vielmehr mit Nutzen, auf ein
Sechstel reduzieren könnte.
Die guten Folgen sollten klar sein: ich habe im Düsseldorfer
Schauspielhaus Aufführungen gesehen, in denen durch monate-
lange künstlerische Feinarbeit eine hohe Qualität erreicht war,
um ein erstes durch Freikarten volles, danach ein halbleeres und
danach ein leeres Haus zu haben — eine sinnlose Verschwendung.
Die Bühne ist später zu einer Selbsthilfe geschritten, die auf dem
angedeuteten Weg liegt, sie hat sich teilweise aufs Gastspiel ver-
legt, in den Städten des Westens, in Holland, selbst in Paris und
neuerdings in München Gastrollen gegeben: aber man braucht
sich nur zu erinnern, daß unterdessen in den meisten Fällen das
Düsseldorfer Haus durch Nebenkräfte auch noch im Gang gehalten
werden mußte, um die Unordentlichkeit dieses Zustandes zu be-
greifen. Wie aber, wenn es tatsächlich nur das DüsseldorferEnsemble
mit festen Verpflichtungen in den umliegenden Städten wäre,
die also — nehmen wir eine siebente zu den sechsen — in jeder
Woche einmal das Fest einer wirklich durchgebildeten Schauspiel-
vorführung erleben könnten! Wer zweifelt, daß jeder Abend
„gefüllt" wäre? * * *
Seitdem diese Zeilen geschrieben wurden, hat die Direktion
eine Flucht in die Öffentlichkeit nicht gescheut und sich aufs
bitterste über die passiven und auch böswilligen Widerstände
ausgesprochen. Da scheint also in Düsseldorf noch etwas anderes
los zu sein; aber es scheint auch nur so, und nichts wäre falscher,
als sich mit dieser Frage in eine kulturkämpferische Sackgasse zu
verrennen — wozu vielleicht mancher geneigt ist, nachdem die
unterdessen erfolgte weitere Subvention gegen das Zentrum in
der Stadtverordnetenversammlung beschlossen wurde. Natürlich
kann jeder Erfahrene die einzelnen Widerstände gegen diese vor-
treffliche Bühne aufzählen; aber diese Widerstände werden schließ-
lich doch nur so bitter empfunden, weil es in Düsseldorf bei
weitem nicht genug Theaterpublikum von der Güte gibt, wie es
das Schauspielhaus braucht. Und die Leute, die eine Bahnfahrt
machen, um den Macbeth anders als bei sich zuhause zu sehen,
bleiben rare Vögel. Also, man kann und soll eine Bühne, die
für das ganze Rheinland ein Stolz sein müßte, auch in ihrer
jetzigen Gestalt nach Kräften subventionieren: man hält sie da-
durch am Leben, aber lebendig im Sinn der Kultur ist sie darum
noch lange nicht. S.
tto Brahms Diadochen.
Der Vergleich paßt insofern, als ja in allen Schulbüchern
zu lesen ist, daß „Alexander bei seinem Tode das Reich unter
seine Feldherren verteilte". Und tatsächlich hat von dem berühmten
Theater Otto Brahms Victor Barnowsky das Haus, das Lessing-
theatergebäude — die sogenannte Künstlersozietät, gebildet aus der
alten naturalistischen Garde (voran Reicher, Sauer, die Else Leh-
mann) das Ensemble übernommen. Der Vergleich hinkt aber
insofern ungewöhnlich, als hier keine gewaltige Macht in Verfall
gerät, sondern eine recht verblichene Herrlichkeit durch die Erhen
aufgefrischt werden soll. Brahms Naturalismus, in seiner Be-
schränkung grandios, aber auch grandios beschränkt, hatte derzeit
ein tiefes Bedürfnis theatralisch befriedigt und in der Ausrottung
konventioneller Theaterei, in der Erziehung zu einheitlich sach-
licher Szenenführung sicher überzeitliche Werte geschaffen. Aber
jedem neuen Anspruch unbeugsam, war dieser eiserne kleine Mann
dann stehen geblieben, und rasten hieß auch hier rosten. Die letzten
Jahre seiner Theaterführung waren ein Schauspiel geräuschlosen
Verfalls, langsamen Abbröckelns und Einstaubens gewesen. Gleich-
wohl ist das Gewicht seines Namens, die Tradition dieser großen,
künstlerisch geleiteten Bühne mächtig genug, um seine Erbschaft
als eine über Berlin hinaus bedeutende Angelegenheit nationaler
Kunst erscheinen zu lassen. Die Nachfolger spannt das Gefühl,
eine große Pflicht übernommen zu haben, und die Kunstfreunde
haben die gespannte Erwartung, ob es den Jungen gelingen wird,
eine Kraft, die dem Alten an Sicherheit und Stärke ebenbürtig
ist, zu neuen Zielen zu richten. Unlängst war das doppelte Debüt.
Die Sozietäre eröffneten in der ehemaligen Kursürstenoper
ihr „Deutsches Künstlertheater" mit „Wilhelm Tell" und
ihr Regisseur hieß Gerhart Hauptmann. Das heißt: man
wollte genau dort anfangen, wo Brahm vor 20 Jahren eingesetzt
hat, als er das „Deutsche Theater" mit einer hypernatürlichen
Aufführung von „Kabale und Liebe" eröffnete und Schiffbruch
litt. Man wollte Schillers ideellen rhetorischen Freskenstil in
realistische Impressionismen auflösen. Von den berühmten Sen-
tenzen, den großen Reden flogen die Fetzen nur so, hundert Panto-
mimen und Interjektionen drängten sich dafür ein, der Vers
verflüchtigte sich, und die Ensembleszenen auf dem Rütli und beim
Apfelschuß wuchsen zu Krisen einer verängstigten Volksseele an,
deren erschütternde Gewalt die Erfindung des Weberdichters
durchaus verriet. Nach der Fülle der Erfindungskraft und der
Intensität der Arbeit wurde der Regisseur Hauptmann zweifellos
als eine ungewöhnliche Potenz sichtbar. Aber geglückt war der
ganze Versuch nicht. Er kann nicht glücken, weil das Psychologische
im „Tell" so schwach und das rein Architektonische so bedeutend
ist, daß bei einer Verlegung des Akzentes keine überwältigende
Wirkung mehr möglich ist. Nur große Schauspieler könnten hier
das Unmögliche möglich machen, wenn sie ihre Person in die
Schillerschen Umrisse hineinsetzen. So hob Mattkowsky innerhalb
einer ganz konventionellen Aufführung am Königlichen Schau-
spielhaus vor Jahren seinen Tell in Shakespearesche Luft. Aber
solche Urkraft ging hier höchstens von Sauers Attinghausen aus;
Marrs Tell hatte nur alle negativen Eigenschaften der Einfachheit,
und die neu engagierten Kräfte des Ensembles erwiesen sich als
unzulänglich. Immerhin die Gefahr des unfreiwillig Komischen,
der einst die Brahmsche Eröffnung erlegen war, drohte hier
höchstens von dem ängstlich sächselnden Baumgarten, der ein
allzu „bescheidener Mann" war. Im ganzen mußte die Energie,
mit der hier überall auf Leben und Bewegung hingearbeitet war,
doch Respekt einflößen. Denn der naturalistische Stil zeigte doch
hier nicht, wie in Brahms letzter Zeit, rein negative Qualitäten.
Leidenschaft war am Werke. Und wenn diese Sozietät unter
der Ägide des großen Brahmschen Hausdichters auch kaum neue
Wege wandeln wird, so ist doch zu hoffen, daß sie den alten Weg
wieder in die Tiefe führt, und alles hervorbringt, was der Natura-
lismus etwa an Schätzen noch ungehoben ließ.
Als eine programmatische Wendung zum Neuen aber könnte
der Optimist die Vorstellung auffassen, mit der Barnowsky
(vom „Kleinen Theater" her als ein stilsicherer Cnsemblebildner
bekannt) sein „Lessingtheater" eröffnete. Er spielte „Peer
Gynt", und dieses schönste und größte Werk Henrik Ibsens be-
zeichnet sehr genau den Punkt, an dem eine wirkliche Nachfolge
Brahms einsetzen muß. Denn Otto Brahm krönte zwar seine Arbeit
mit einem Jbsenzyklus, aber ihm blieb Ibsen durchaus der Gesell-
schaftsdichter vom „Bund der Jugend" an, der Mann, der die
Wahrheit durch eine (sehr zweifelhafte) Natürlichkeit ausgedrückt
und das Ewige in bedenklichen Symbolen aktueller Sozialfragen
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schütterung haben kann — und das legt von selber die Frage nahe,
ob diese Aufwendungen überhaupt noch berechtigt sind. Daß sie
wohl kaum um der Kunst willen, sondern mehr — soweit die Städte
in Frage kommen — aus Gründen des Fremdenverkehrs und der
Repräsentation fließen, dürfte dabei von vornherein sicher sein.
Julius Bab hat den Grund dieses Niederganges oder besser
dieser Niederlage im unsozialen Dasein der Bühnen zu finden ge-
glaubt, und so ist er konsequent, eine Besserung von den Volks-
bühnen aus zu erwarten, wo — wie er an der Berliner Volks-
bühne dartut — im Anfang das Publikum da ist, das Theater also
tatsächlich das Bedürfnis einer Masse erfüllen muß, statt mit allen
möglichen Mitteln in der Masse zu fischen. Damit wären aber
die Bühnen im allgemeinen nicht weniger überflüssig; denn ich
möchte die Stadt genannt haben, die sich außer Berlin eine eigene
Volksbühne leisten kann.
Mir scheint die logische Folgerung vielmehr die zu sein, daß
die Theater an ihrer Alltäglichkeit leiden; es ist jeden Abend etwas
los in ihnen, aber es sind keine Leute da, die jeden Abend darauf
warten: auch die Kirche ist eine moralische Anstalt, die — einen
guten Prediger vorausgeseht — immer noch auf Zuspruch rechnen
kann; aber der beste Prediger versuche einmal, jeden Tag zu pre-
digen. Natürlich weiß ich genau, wie die Katze beim Theater sich
in den Schwanz beißt: um die Gagen eines Ensembles zahlen zu
können, ist die möglichste Ausnutzung nötig. Aber hier muß die
einfache Frage aufstehen: Warum müssen denn all die Städte in
unserem deutschen Vaterland ihr eigenes Ensemble haben? Ich
behaupte, das Düsseldorfer Schauspielhaus reicht aus, um das
wirkliche Bedürfnis nach einem ernsthaften Schauspiel in Krefeld,
Essen, Duisburg, Elberfeld, Barmen mit zu befriedigen. Warum
aber muß jede dieser Städte ein eigenes Ensemble haben, das
sich nur durch eine rastlose Novitätenhetze ein spärliches Publikum zu
erhalten vermag? Nicht, daß ich damit etwa für Düsseldorf eine
Extrawurst verlangte, ich gönne jeder Stadt „Unfern Helden-
spieler" und „Unsere Primadonna", und meinetwegen dürfte sich
das Schauspielhaus auch in Neuß etablieren: ich will nur an diesem
Beispiel behaupten, daß unser Bühnenwesen seinen Bestand an
Dichtern, Regisseuren, Dramaturgen, Helden, Liebhaberinnen
und komischen Alten ohne Schaden, vielmehr mit Nutzen, auf ein
Sechstel reduzieren könnte.
Die guten Folgen sollten klar sein: ich habe im Düsseldorfer
Schauspielhaus Aufführungen gesehen, in denen durch monate-
lange künstlerische Feinarbeit eine hohe Qualität erreicht war,
um ein erstes durch Freikarten volles, danach ein halbleeres und
danach ein leeres Haus zu haben — eine sinnlose Verschwendung.
Die Bühne ist später zu einer Selbsthilfe geschritten, die auf dem
angedeuteten Weg liegt, sie hat sich teilweise aufs Gastspiel ver-
legt, in den Städten des Westens, in Holland, selbst in Paris und
neuerdings in München Gastrollen gegeben: aber man braucht
sich nur zu erinnern, daß unterdessen in den meisten Fällen das
Düsseldorfer Haus durch Nebenkräfte auch noch im Gang gehalten
werden mußte, um die Unordentlichkeit dieses Zustandes zu be-
greifen. Wie aber, wenn es tatsächlich nur das DüsseldorferEnsemble
mit festen Verpflichtungen in den umliegenden Städten wäre,
die also — nehmen wir eine siebente zu den sechsen — in jeder
Woche einmal das Fest einer wirklich durchgebildeten Schauspiel-
vorführung erleben könnten! Wer zweifelt, daß jeder Abend
„gefüllt" wäre? * * *
Seitdem diese Zeilen geschrieben wurden, hat die Direktion
eine Flucht in die Öffentlichkeit nicht gescheut und sich aufs
bitterste über die passiven und auch böswilligen Widerstände
ausgesprochen. Da scheint also in Düsseldorf noch etwas anderes
los zu sein; aber es scheint auch nur so, und nichts wäre falscher,
als sich mit dieser Frage in eine kulturkämpferische Sackgasse zu
verrennen — wozu vielleicht mancher geneigt ist, nachdem die
unterdessen erfolgte weitere Subvention gegen das Zentrum in
der Stadtverordnetenversammlung beschlossen wurde. Natürlich
kann jeder Erfahrene die einzelnen Widerstände gegen diese vor-
treffliche Bühne aufzählen; aber diese Widerstände werden schließ-
lich doch nur so bitter empfunden, weil es in Düsseldorf bei
weitem nicht genug Theaterpublikum von der Güte gibt, wie es
das Schauspielhaus braucht. Und die Leute, die eine Bahnfahrt
machen, um den Macbeth anders als bei sich zuhause zu sehen,
bleiben rare Vögel. Also, man kann und soll eine Bühne, die
für das ganze Rheinland ein Stolz sein müßte, auch in ihrer
jetzigen Gestalt nach Kräften subventionieren: man hält sie da-
durch am Leben, aber lebendig im Sinn der Kultur ist sie darum
noch lange nicht. S.
tto Brahms Diadochen.
Der Vergleich paßt insofern, als ja in allen Schulbüchern
zu lesen ist, daß „Alexander bei seinem Tode das Reich unter
seine Feldherren verteilte". Und tatsächlich hat von dem berühmten
Theater Otto Brahms Victor Barnowsky das Haus, das Lessing-
theatergebäude — die sogenannte Künstlersozietät, gebildet aus der
alten naturalistischen Garde (voran Reicher, Sauer, die Else Leh-
mann) das Ensemble übernommen. Der Vergleich hinkt aber
insofern ungewöhnlich, als hier keine gewaltige Macht in Verfall
gerät, sondern eine recht verblichene Herrlichkeit durch die Erhen
aufgefrischt werden soll. Brahms Naturalismus, in seiner Be-
schränkung grandios, aber auch grandios beschränkt, hatte derzeit
ein tiefes Bedürfnis theatralisch befriedigt und in der Ausrottung
konventioneller Theaterei, in der Erziehung zu einheitlich sach-
licher Szenenführung sicher überzeitliche Werte geschaffen. Aber
jedem neuen Anspruch unbeugsam, war dieser eiserne kleine Mann
dann stehen geblieben, und rasten hieß auch hier rosten. Die letzten
Jahre seiner Theaterführung waren ein Schauspiel geräuschlosen
Verfalls, langsamen Abbröckelns und Einstaubens gewesen. Gleich-
wohl ist das Gewicht seines Namens, die Tradition dieser großen,
künstlerisch geleiteten Bühne mächtig genug, um seine Erbschaft
als eine über Berlin hinaus bedeutende Angelegenheit nationaler
Kunst erscheinen zu lassen. Die Nachfolger spannt das Gefühl,
eine große Pflicht übernommen zu haben, und die Kunstfreunde
haben die gespannte Erwartung, ob es den Jungen gelingen wird,
eine Kraft, die dem Alten an Sicherheit und Stärke ebenbürtig
ist, zu neuen Zielen zu richten. Unlängst war das doppelte Debüt.
Die Sozietäre eröffneten in der ehemaligen Kursürstenoper
ihr „Deutsches Künstlertheater" mit „Wilhelm Tell" und
ihr Regisseur hieß Gerhart Hauptmann. Das heißt: man
wollte genau dort anfangen, wo Brahm vor 20 Jahren eingesetzt
hat, als er das „Deutsche Theater" mit einer hypernatürlichen
Aufführung von „Kabale und Liebe" eröffnete und Schiffbruch
litt. Man wollte Schillers ideellen rhetorischen Freskenstil in
realistische Impressionismen auflösen. Von den berühmten Sen-
tenzen, den großen Reden flogen die Fetzen nur so, hundert Panto-
mimen und Interjektionen drängten sich dafür ein, der Vers
verflüchtigte sich, und die Ensembleszenen auf dem Rütli und beim
Apfelschuß wuchsen zu Krisen einer verängstigten Volksseele an,
deren erschütternde Gewalt die Erfindung des Weberdichters
durchaus verriet. Nach der Fülle der Erfindungskraft und der
Intensität der Arbeit wurde der Regisseur Hauptmann zweifellos
als eine ungewöhnliche Potenz sichtbar. Aber geglückt war der
ganze Versuch nicht. Er kann nicht glücken, weil das Psychologische
im „Tell" so schwach und das rein Architektonische so bedeutend
ist, daß bei einer Verlegung des Akzentes keine überwältigende
Wirkung mehr möglich ist. Nur große Schauspieler könnten hier
das Unmögliche möglich machen, wenn sie ihre Person in die
Schillerschen Umrisse hineinsetzen. So hob Mattkowsky innerhalb
einer ganz konventionellen Aufführung am Königlichen Schau-
spielhaus vor Jahren seinen Tell in Shakespearesche Luft. Aber
solche Urkraft ging hier höchstens von Sauers Attinghausen aus;
Marrs Tell hatte nur alle negativen Eigenschaften der Einfachheit,
und die neu engagierten Kräfte des Ensembles erwiesen sich als
unzulänglich. Immerhin die Gefahr des unfreiwillig Komischen,
der einst die Brahmsche Eröffnung erlegen war, drohte hier
höchstens von dem ängstlich sächselnden Baumgarten, der ein
allzu „bescheidener Mann" war. Im ganzen mußte die Energie,
mit der hier überall auf Leben und Bewegung hingearbeitet war,
doch Respekt einflößen. Denn der naturalistische Stil zeigte doch
hier nicht, wie in Brahms letzter Zeit, rein negative Qualitäten.
Leidenschaft war am Werke. Und wenn diese Sozietät unter
der Ägide des großen Brahmschen Hausdichters auch kaum neue
Wege wandeln wird, so ist doch zu hoffen, daß sie den alten Weg
wieder in die Tiefe führt, und alles hervorbringt, was der Natura-
lismus etwa an Schätzen noch ungehoben ließ.
Als eine programmatische Wendung zum Neuen aber könnte
der Optimist die Vorstellung auffassen, mit der Barnowsky
(vom „Kleinen Theater" her als ein stilsicherer Cnsemblebildner
bekannt) sein „Lessingtheater" eröffnete. Er spielte „Peer
Gynt", und dieses schönste und größte Werk Henrik Ibsens be-
zeichnet sehr genau den Punkt, an dem eine wirkliche Nachfolge
Brahms einsetzen muß. Denn Otto Brahm krönte zwar seine Arbeit
mit einem Jbsenzyklus, aber ihm blieb Ibsen durchaus der Gesell-
schaftsdichter vom „Bund der Jugend" an, der Mann, der die
Wahrheit durch eine (sehr zweifelhafte) Natürlichkeit ausgedrückt
und das Ewige in bedenklichen Symbolen aktueller Sozialfragen
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