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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 23.1913

DOI Artikel:
Ohmann, Fritz: Neuere Kleistliteratur
DOI Artikel:
Bab, Julius: August Bürger, 1
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https://doi.org/10.11588/diglit.26493#0080

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Neuere Kleistliteratur.
Tiefen eines starken Trieblebens entspringt, und daß
das Besondere, Gewaltsame dieses Triebes mit dem
Hinweis auf seine menschliche Güte und Liebe sehr
unzulänglich erklärt ist. Dazu muß man in die meta-
physische Wesensschicht herabsteigen, in der Kunst und
Persönlichkeit gleicherweise wurzeln, in der das Ero-
tische nur noch als Reflex einer besonderen Art, den
Mitmenschen zu erleben, erscheint. Ich glaube, in
dieser Hinsicht hat der Philosoph O. Ewald in seinen
„Problemen der Romantik" doch tiefer gesehen; es
liegt hier eine Frage, die auch Herzog nicht gelöst, son-
dern ignoriert hat.
Die Absicht, das rein Künstlerische in Kleist zu be-
tonen, verführt überhaupt dazu, die Bedingtheit seiner
ganzen Erlebnisweise aus der philosophischen Zeit-
stimmung zu unterschätzen. Kleist hat von dem unge-
heuren Erlebnis Kant geredet, und man sucht nun
seinen Einfluß zu fixieren; von Fichte hat er nie geredet
— beweist das etwas gegen seinen Einfluß? Da Kleist
seit der Entwicklung seiner Künstlerschaft überhaupt
nicht mehr redet, sondern bildet, muß man die stummen
Zeugen aufrufen! Es liegt ja immer etwas Gefähr-
liches in solchen metaphysischen Deutungen der Kleist-
schen Kunst, wie sie etwa Hanna Hellmann und jüngst
S. Krebs (in den Preuß. Jahrbüchern) gegeben haben.
Aber man muß diese Wege gehen und Kleists Art zu
erleben, einstellen in die eigentümliche Lebensstimmung
jener Zeit, die von dem Mißverständnis des Kantischen
Idealismus und des Fichteschen „Ich" bedingt ist. —
Doch nein, noch weiter muß man zurückgehen, denn
das Lebensgefühl einer Generation kann nicht aus
einem falsch verstandenen Theorem, sondern muß aus
dem Leben kommen. Jedenfalls: hier ist der tiefste,
freilich ganz mittelbare, unbewußte Zusammenhang
Kleists nlit der Romantik. Der Geist des subjektiven
Illusionismus, der im „Athenäum", in Brentano
lebte, den uns F. Brüggemanns feinsinniges Buch
über „Die romantische Ironie" (E. Diederichs, 1911)
von Jakobis „Woldemar" und dem Werther bis zu
Tieck hin aufgewiesen und zum geistesgefchichtlichen
Verständnis gebracht hat — diesec Geist war auch in
Kleist: Verlust der Wirklichkeit. Brentano hat sich da-
bei ganz verloren; Tieck sich resigniert; einzig Kleist
hat sich überwunden, um die Welt zu gewinnen: die
Welt der Kunst. F. Ohmann.
ugust Bürger.
Aus Bürgers erster Periode, deren Produkte sich
durch einen bewußt derberen Ton erst wenig von der
üblichen Bildungsspielerei der Rokokoanakreontiker unter-
scheiden, ist ein Liedchen auf uns gekommen, das „Herr
Bachus" betitelt war, und später in ein etwas wür-
digeres „Bachus" umgedichtet wurde. Da wird in guter
Trinkerlaune der Vorschlag gemacht, Bachus zum Herrn
des Parnasses zu erheben:
Auf, laßt uns ihn für den Apoll
zum Dichtergott erbitten!
Das ist ein harmloser Biedermannsscherz. Aber Bürgers
Dämon hat seinen tiefsten Sinn in das kindische Spiel

gesenkt: denn im Aufruhr der dionysischen wider die
apollinischen Gewalten ist der Mann und Dichter Bürger
gefallen. Apollinische Genien, Geister der großen Ord-
nung und festlichen ^Schönheit, hoben damals das
deutsche Zeitalter ins Licht der Kultur — und Bürger
stand in diesem Zeitalter, ein dionysischer Rebell, voll
unbefriedeter, wild begehrender Natur. Aber kein
ebenbürtiger, jenen trotzender Genius — als ein dio-
nysisches Talent, erdrückt, verwirrt, zerrüttet, ist Bürger
zugrunde gegangen im selben Jahre, da Schillers
und Goethes Doppelgestirn eben vereint am Firmament
hochstieg.
Bürger starb 1794 zu Göttingen und wurde 1747
auf 1748 in der Silvesternacht zu Molmerswende,
einem kleinen Dorf im Halberstädtischen, geboren.
Und es ist vielleicht das Charakteristischste dieses so
unruhigen, aber so wenig „bewegten" Lebens, daß
es sich bei aller Unruhe und aller beständigen Em-
pörung, bei allem Streben „loszukommen", allein
Drang in die Weite doch niemals ernstlich, nie anders
als zu kurzen Ausflügen über diese paar Quadratmeilen
niedersächsischer Erde hinausbewegt hat.
Gottfried August Bürger war der Sohn einer viel-
köpfigen Pfarrersfamilie von sehr mäßigem Wohl-
stand. Der besser begüterte Großvater Jakob Philipp
Bauer nahm den wenig und schlecht erzogenen Knaben
zu sich nach Aschersleben und ließ ihn erst dort, weiterhin
in Halle, auf dem berühmten Franckeschen Pädagogium
und dann auf der Universität, studieren. Von Halle
kam Bürger an die Universität Göttingen, — ein etwas
wüster Studiosus, an dem eine Neigung fürs Laute,
eine robuste Sinnlichkeit und sehr mäßiger Arbeitsdrang,
schon damals neben manchen edleren Qualitäten des
Geistes und Herzens hervortraten. Seine Streiche
flößten eine Zeitlang seinen Freunden und Gönnern
Besorgnis ein, und erst der Einfluß des guten und
damals allgeehrten Literaturpapas Gleim, der zu dem
begabten Burschen eine Zuneigung faßte, scheint die
wilden Wogen seines Studentenwandels etwas ge-
glättet zu haben. Seine ehrliche und kräftige, gütige
und begeisterte Art, mit Menschen umzugehen, warb
ihm nun bald unter älteren wie gleichjungen einen Kreis
tüchtiger Freunde. Nachdem er durch die theologische
wie philosophische Fakultät geschlendert, brachte er mit
einigem Fleiß seine juristischen Studien in Göttingen
zum Ziel, und im Jahre 1772 bewarb er sich um die
Amtmannsstelle auf den nahegelegenen Gütern der
Uslarschen Familie. Dies einzige Mal in seinem Leben
hatte er mit einer Bewerbung Erfolg; aber es war
nicht zu seinem Glück. Er fand einen durch untaugliche
Vorgänger völlig verwahrlosten Gerichtsstand vor, und
er hatte weder juristisches Interesse noch geduldige
Selbstüberwindung genug, um hier Ordnung zu schaffen;
er kam aus Versäumnissen, Reprimanden, Strafgeldern,
Anklagen und Ärgernissen aller Art nie heraus und
versank dabei immer mehr in apathischen Abscheu vor
seinem Amt und häufte so wieder den Verdruß. Dies
Amt schien ihm schließlich das Glück der Kunst und
alle Lebensfreude zu versperren. — Überdies: die
Besoldung war schwach, und da Bürger zwar ohne
sonderlich luxuriöse Bedürfnisse, aber ein herzlich


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