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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 23.1913

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Dünnwaldt, Willy: Gottfried Keller
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Halm, August Otto: Über pathetische Musik
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https://doi.org/10.11588/diglit.26493#0040

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Gottfried Keller.
etwas sein, so sollte ihm keiner etwas sein. Auge um
Auge, Zahn um Zahn, Menschheit. Und als am sieb-
zigsten Geburtstag, dem letzterlebten, Post und Tele-
graph von Seeligsberg nicht emsig genug sein konnten,
die Wünsche und Geschenke der Welt dem einsam über
dem Urner See Hausenden zu Händen zu bringen,
da schob er alles mißvergnügt beiseite. Wenn zu dieser
Stunde statt des Kanzlers höchsteigener Person mit
den Glückwunschschreiben des schweizerischen Bundes-
rates Johanna Kapp zu ihm getreten wäre und hätte
die Arme um seine kurz gedrungene Gestalt geschlungen
und im struppigen Bartgewühl mit den Lippen seinen
Mund gesucht. . . dieser Tag siebzigjährigen Daseins
wäre heiterer gewesen, wie des siebzigjährigen Daseins
Tage überhaupt. Aber aus dem grünen Heinrich war
ein grauer geworden, der seines Lebens Sinngedicht nicht
enträtselt hatte. Grau geworden und nicht mal grün
gewesen an einem geliebten Frauenleib . . .
Wer hat sich zurechtgefunden in den Phantasien und
Träumen, die er vor sich hinmurmelte, als seinem
zähen Körper das Sterben schlecht gelingen wollte,
und er zu den Sternen des nächtlichen Himmels über
Zürich, seinem Wurzellande, betete: „Heerwagen,
mächtig Sternbild der Germanen, das du fährst mit
stetig stillem Auge über den Himmel, vor meinen
Augen deine herrliche Bahn, von Osten aufgestiegen
alle Nacht! O fahre hin und kehre täglich wieder. Sieh
meinen Gleichmut und mein treues Auge, das dir
folgt so lange Jahre. Und bin ich müde, o so nimm die
Seele, die so leicht an Wert, doch auch an üblem Willen,
nimm sie auf und laß sie mit dir reisen, schuldlos wie
ein Kind, das deine Strahlendeichsel nicht beschwert
— hinüber!-Ich spähe weit, wohin wir fahren."
Wer hat gelauscht und weiß etwas? Wes Auge war
des Spähens dorthin fähig, dahin sein Blick sich verlor?
Niemand. Auch nicht Böcklin, der zarte Versteher
und letzte Weggenoß des großen Meisters. Niemand
weiß etwas. Doch es könnte sein, daß des einst grünen,
nun grauen Heinrichs vergeistigtes Auge im Heerwagen
der Sterne Johanna wahrgenommen; denn es gibt
Auserwählte, denen die Macht und die Fähigkeit der
Fernverständigung verliehen ist. Willy Dünnwaldt.
H^ber pathetische Musik.
„Wenn ihrs nicht fühlt, ihr werdets nicht erjagen."
— Und so weiter. Goethe hat das Gespräch Fausts mit
dem Famulus Wagner so gestaltet, daß der Vertreter
des Lernens, der an Erlernbares Glaubende eine kläg-
liche Figur macht.
Die dichterische Freiheit in allen Ehren: aber recht
hat der Famulus, und unrecht hat sein Meister. Daß der
Rechthabende in diesem Falle ein Tropf ist, hat manchen
schon irre gemacht, dem das Gespräch auch inhaltlich
maßgebend wurde, da er den dramatischen Sieg von
dem sachlichen nicht zu trennen verstand.
Was echt ist, wirkt deshalb noch nicht unter allen
Umständen; und daß auch Unechtes wirken und über-
zeugen kann, lehrt die Erfahrung.
50

Gilt das von der Redekunst, so ist von der wirklichen
Kunst zu sagen, und zwar je mehr, je wirklicher und
eigentlicher sie als Kunst ist: daß die Frage nach dem
Zusammenhang des echt Gefühlten und wirkungsvoll
Gesagten nicht das Wesentliche trifft; denn die Kunst
ist gerade um so echter, je weniger sie persönlich Ge-
fühltes übersetzt; ihre Sprache ist nicht dessen Ausdruck.
Um von pathetischem Stil in der Musik zu sprechen,
muß man also zwischen dem Zustand der Musik, d. i.
dem musikalischen Vorgang, und dem Zustand des
Autors wohl unterscheiden.
II.
Freilich „fühlt" der Komponist Bedürfnisse des
Harmonischen, des Rhythmischen. Lassen wir uns durch
die auf verschiedenen Gebieten verschiedene Bedeutung
des Worts: „Gefühl" nicht verwirren. Das künstlerische
Gefühl kann ja an sich schon unmöglich in die Kunst als
in eine Sprache übersetzt, durch die Kunst dargestellt
werden, da es vielmehr das künstlerische Gestalten leitet
und beseelt, das Gestalten erst zum künstlerischen Wert
und Leben erhebt. Es sagt mir (um ein Einzelnes zu
nennen), wo ich einen Vorhalt brauche; berät es mich
schlecht, so gibt es einen Schaden in dem Tonwerk, und
alles Sonstige von psychologischen Gefühlswerten, die
durch den Vorhalt geschaffen werden können, vermöchten
diesen nicht zu heilen — wogegen ein rhythmisch und
melodisch gut begründeter Vorhalt sehr wohl darauf
verzichten kann, außerdem noch etwas zu bedeuten, oder
irgendwelche Gefühle auszulösen. Das ist ein Beispiel
aus dem Gebiet der musikalischen Sprache; was es
uns lehrt, das dürfen wir überhaupt auf den musikalischen
Stil, also auch auf den pathetisch musikalischen, anwen-
den. Hier wie dort sind es Bedürfnisse des eigenen
Lebens der Kunst, sind es künstlerische, will sagen tech-
nische Momente, die den Ausschlag geben. Insofern bin
ich fast versucht, die Fähigkeit des hohen Pathos als eine
Alterserscheinung zu betrachten. Freilich des Alters,
das die Reife bringt, nicht der Gebrechlichkeit und
Müdigkeit.
Immerhin, auch Gebrechlichkeit muß diese Kraft nicht
notwendig zerstören. War es doch ein greiser und hin-
fälliger Mann, der sie in einzigartigem Maß bewies.
Ich kenne keine Musik, die an starkem und leuchtendem
Pathos dem letzten Werk Anton Bruckners gleichkäme;
und doch mag kaum jemals eine so gewaltige Arbeit
einer hoffnungsloseren Körperlichkeit abgetrotzt worden
sein.
III.
Pathos, streng und schwer, ist selten; Affekt, billig
zu haben, ist häufig.
Auch diesen Unterschied sehen wir oft verkannt und
verwischt, und es haben auch die Komponisten selbst
uns nicht genügend dazu angehallen, ihn zu respektieren.
Beethovens Louats hat mit dem Groß-
pathetischen nur sehr wenig zu schaffen; der Titel führt
uns irre. Das eröffnende Grave verspricht, das ihm
folgende Allegro verscheucht Pathos; dieses pflegt dem
Furioso aus dem Weg zu gehen.
Wahres Pathos ist kein passiver, sondern im Gegen-
teil ein hochaktiver Zustand; da ist kein Aufgewühltsein,
 
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