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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Editor]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 23.1913

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Viator: Symbol und Wirklichkeit
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Roettger, Carl: Anna Croissant:Ruft
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https://doi.org/10.11588/diglit.26493#0420

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orientieren in der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen,
unter denen es das Verwandte herausspürt mit der
Sicherheit einer Wünschelrute, dabei aber ebenso stark
im Verneinen wie im Bejahen.
Darauf beruht die Macht, die ein Mensch, den wir
in der Jugend verehrten, als wir noch das starke Jdeali-
sierungsvermögen besaßen, über unser ganzes Leben
haben kann. Darauf beruht ein großer Teil der Bedeu-
tung aller Religionen, und in Deutschland — mehr als
auf Pfaffendisziplin — der überlegene Einfluß des Ka-
tholizismus einerseits und die Machtlosigkeit des liberalen
Protestantismus andererseits. Die — historisch not-
wendige — kritische Durcharbeitung der Evangelien
hat das Bild des Menschen Jesus lebendig gemacht und
die Skrupel beseitigt, welche manchen kritischen Geistern
seine legendarische Umkleidung bereiteten, und vielen,
denen das traditionelle Heilandsbild zum leeren Schemen
geworden war, ist Jesus von Nazareth heute lebendige
Wirklichkeit. Das christliche Symbol aber war der Ge-
kreuzigte und Auferstandene, nicht Jesus, welcher lehrt
und heilt, und es ist für den Liberalismus verloren ge-
gangen oder wenigstens in den Hintergrund getreten.
Darin, und nicht in dem Aufgeben kirchlicher Lehrsätze,
liegt der tiefere Grund und die Rechtfertigung des in-
stinktiven Gefühls der Orthodoren, welches sie die
Christlichkeit der Liberalen anzweifeln läßt. Darin liegt
auch der Grund für die innere Armut des Liberalismus,
denn mit dem Symbol gehen dessen Inhalte, die wesent-
lichsten Inhalte des christlichen Glaubens, verloren.
Und damit hängt endlich auch die Uneinigkeit und
Zerfahrenheit des protestantischen Liberalismus zu-
sammen, der die Bedeutung des Begriffs der Kirche,
der Ekklesia, gar nicht mehr faßt. So wird uns die eini-
gende Bedeutung des Symbols klar. Keine dauernde
Gemeinschaft ist ohne Symbole denkbar. Sie binden zu-
sammen, sie veranschaulichen die höhere Einheit und
machen sie damit auch dem schlichten Geiste glaubhaft.
In dieser Erkenntnis gab man den Armeen von jeher
ihre Adler und Fahnen; das bleibt auch im parlamen-
tarisch regierten Staat die Bedeutung des Monarchen.
Und alle unsere Erziehung zum Sozialgefühl und zur
Staatsbürgerlichkeit wird leeres Gerede bleiben, wenn
sie sich das nicht vergegenwärtigt. Nach einem Zeitalter
des Individualismus läßt sich eine gesteigerte Sehnsucht
nach Gemeinschaftsleben überall erkennen. Mögen wir
die festen Punkte finden, um die die Zerstreuten sich
sammeln und zur Ruhe kommen können, und möge
der Himmel uns leiten bei der Wahl der Kristallisations-
kerne, von denen alle Zukunftsgestaltung abhängig ist!
Wir sind uns völlig klar darüber, daß durch die bloße
Diskussion dieser Dinge nichts gebessert werden kann.
Wenn wir sie dennoch zur Sprache bringen, geschieht
es in dem Glauben, daß in den meisten von uns auf-
bauende dichterische Kräfte schlummern, deren wir uns
selbst nicht bewußt sind, und daß viel gewonnen wäre,
wenn wir uns auf sie besinnen und sie zu Worte kommen
ließen. Wir würden so das Werk unserer Väter, der
Wirklichkeitseroberer, nicht verleugnen, sondern erst
recht vollenden, indem wir aus Sklaven zu Herren
der Wirklichkeit würden mit Hilfe des Symbols.
Viutor.

nna Croissant-Rust.
Anfang der neunziger Jahre, noch mit dem
Naturalismus, tauchte diese Dichterin auf;
wurde einige Jahre geschätzt, wohl auch geliebt (ihres
sehr starken, doch auch künstlerisch recht kräftigen Realis-
mus, respektive Naturalismus wegen) und geriet dann
ein wenig in Vergessenheit. Das heißt: nicht ganz.
Es wurde hin und wieder von ihr gesprochen; aber doch
meist nicht viel anders, als sie sei eine der mancherlei
besseren romanschriftstellernden Frauen. — Nun aber
ist sie weit mehr und man kann nur dringend wünschen,
die deutsche Kritik möchte sich mit etwas Liebe der Dich-
terin annehmen. Erkannten schon die führenden Geister
der „neuen Dichtung" in den neunziger Jahren ein außer-
ordentlich starkes Talent in ihr (Michael Georg Conrad
druckte sie meines Wissens zuerst in seiner „Gesellschaft"),
so lassen ihre letzten Werke eine solche künstlerische Reife
erkennen, daß sie zum allerbesten mit gehören, was
die Prosaepik der letzten fünfzig Jahre hervorgebracht
hat. Oder sollte es gerade an der Reife der letzten Dich-
tungen, an ihrer herben, knappen, so ganz unsenti-
mentalen Art liegen, daß es ein wenig einsam um sie
geworden ist? Wie nun auch, Anna Croissant ist eine
Dichterin, von der zu reden lohnt.
Ich gestehe, bei ihren Werken den Sinn, die Mög-
lichkeit des Naturalismus (als künstlerischen Prinzips)
wieder einmal sehr deutlich gefühlt, gesehen zu haben,
obwohl ich mich künstlerisch durchaus als Antipoden der
Dichterin fühle. Ja, ich möchte sagen: Anna Croissant-
Rust sei eine der ganz wenigen wirklichen Naturalisten
überhaupt gewesen. Heute, da wir mehr Distanz zu so
manchem naturalistischen Dichter haben, erkennen wir
manches schärfer: da und dort wohl einen ziemlichen
Einschlag von Sentimentalität (die immer ein Feind der
künstlerischen Vollendung ist), oder auch ein Minus an
genauester Beobachtung (des äußeren Lebens). Der
Naturalist, als Dichter, der von außen an das Leben
herangeht, es überwältigen und dadurch erst zu einem
Innen machen will (eben im Kunstwerk), ist einerseits
ohne ungeheuren Trieb zu genauester Auffassung, sagen
wir geradezu: zur unvoreingenommensten wissenschaft-
lichen Forschung nicht denkbar; ohne feinst funktio-
nierendes „Hirn"; ist aber anderseits nicht denkbar
ohne künstlerische Kombination und — metaphysischen
Untergrund. Ohne das letztere müßte er eben logischer-
weise Soziologe, Gelehrter, Volksmann oder was sonst
werden.
Wie ich schon sagte, spricht sich in den ersten Werken
der Anna Croissant-Rust ein ganz starker Naturalismus
aus: eben in der so feinen, genauen Beobachtung des
äußeren Lebens, in der grandiosen Kenntnis des Lebens,
besonders unterer Schichten. Und dieser Naturalismus
mag zu ihrem damaligen schnellen Bekanntwerden
beigetragen haben. Mit Recht! Denn in den Büchern
„Feierabend", „Lebensstücke", in dem Drama „Der
Bua" sprach sich eine unzweifelhafte Kraft aus; eine
Kraft, die es vermochte, ohne aufdringliche Tendenz,
ohne anklägerische Gebärden, eben rein sachlich, un-
erbittlich Ausschnitte des Lebens hinzustellen und in die
dargestellten Ereignisse, in diese meist brutalen Gescheh-


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