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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 23.1913

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Smekal, J.: Die Wunder zu Canterbury
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Bab, Julius: Dramaturgisches Jahr
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https://doi.org/10.11588/diglit.26493#0287

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Dramaturgisches Jahr.

und ergeben, wie er es einst so oft getan, sein „veo
excelsior". Und allmählich verlor er sich in steigender
Verzückung. Er sah eine Treppe aufgetan, die golden
zwischen dichten Wolken empor führte, immer höher.
Und irgend in einer höchsten Höhe saß er auf einem
goldenen Thron, er, der Heilige. Er war verklärt, nicht
ernst, nicht heiter... Dies wußte Thomas, der Mörder;
und er fing von neuem seine Psalmen und Beschwörungen
an und dachte mit einem Stück wieder an sein Erdenleben,
an seine kleinen Tiere vor ihm, auf die der Heilige gütig
blickte. Der oben war verklärt in Heller Ewigkeit, die aber
waren nur Staub und Asche; und es kam eine tiefe
Betrübnis über ihn und eine Schwere, die von der
Erkenntnis ewigen Verlorenseins stammte: und doch
war es nicht die Sorge um sich selbst, sondern er dachte
nur an diese Geschöpfe und er war erfüllt von der einzigen
Inbrunst, sie leben zu sehen.
Einen Augenblick hielt er inne; der Heilige dort oben
war aufgestanden und hatte den Finger leise zeigend
gegen abwärts gerichtet; Thomas folgte der Gebärde,
und das Rauchfaß entfiel seiner Hand; während die
Wolkentreppe zuschlug, erlangten die kleinen toten
Dinger wirklich Leben, duckten sich zurecht und liefen
und äugelten und kamen wieder. Sie erkannten ihn
vielleicht und flohen ihn nicht. Und in dem Mörder
erwuchs eine Freudigkeit, die er nicht tragen konnte.
Er setzte sich auf die Grabstufen nieder, er lallte abgerissene
Sätze, die wie Liebkosungen klangen; seine Augen
quollen über, da sie die Bewegungen der weißen Mäuse
verfolgten. Und dann kam eine wilde Besinnungslosig-
keit über Thomas; er sprang auf und verfolgte in gro-
teskem Tanze das entwischende Paar; er schnellte auf
einem Bein hoch und nieder und stieß grölende Laute
von sich. Er verlor die Tiere und entdeckte sie wieder;
zuerst sah er eines, dann das zweite und, wie war ihm
unbegreiflich, ein drittes, ein viertes, zehn, zwanzig.
Aus allen Ecken krochen sie hervor; alle mit den roten
Funkelaugen und den weißlich runden Körpern, an denen
die langen Schwänzlein zitterten. Überall bedeckten sie
den Boden der Kathedrale. Thomas fand keinen Weg
mehr zu seinem Tanz; er durfte keines zertreten, da es
vielleicht sein eigenes war. Er löschte in einer steigernden
Angst Kerze um Kerze, doch der wogende Schein der
milchigweißen Tiere blieb und erfüllte den ganzen Raum.
Thomas schrie aus einer ihn schnürenden Hilflosigkeit;
er taumelte die Bankreihen entlang; er wollte sich
an der Mauer weiter tasten nach irgend einem Ausweg;
alle Türen waren verschlossen; die Masse wuchs mehr
und mehr; er fühlte das weichliche Durcheinanderwogen
anschwellen. Mit letzter Anstrengung entwand er sich
und stürzte die Kanzel hinauf; auch hier verfolgte ihn
der Schwarm. Er nahm das dunkle Kreuz, um ihn
zu bannen, doch die Tiere glitten schon das Holz entlang.
Thomas stieg auf die Brüstung, überall flimmerte das
Weiß auf, er schloß die Augen und stürzte sich durch den
schwarzen Raum.
Am Morgen fand man einen Büßer-, krampfhaft
ein Kruzifix umklammernd, zerschmettert am Boden
neben der Kanzel liegen. In seiner Nähe waren zwei
tote weiße Mäuse. Niemand erkannte den Fremden;
nur ein Pilger wollte wissen, daß dieser gemeinsam

mit dem Heiligen über Land gezogen sei und daß sie
beide Brüder waren; und so man dies neue Wunder
auch nicht verstand, gab man dem Toten doch ein Grab
neben dem großen Thomas und legte in Verehrung
jedes Unbegreiflichen auch die kleinen weißen Tiere
hinein.
Und hin und wieder kniete auch dort eine fromme
Seele nieder und bat um Erhörung.
ramaturgisches Jahr.
Da in uns allen auf irgend einem verborgenen
Grunde die Anschauung lebt, daß eigentlich
nur die Winterhälfte des Jahres der menschlichen Kultur
gehört, der Sommer aber der große Feiertag ist oder
doch sein sollte, in dem man von der Natur sich neue
Arbeitskräfte holt, so hat der blöde Geschichtszufall des
1. Januar für die Jahresbilanzen des Kulturmenschen
keine Bedeutung; aber so um den 1. Mai herum, da ist
ein Abschnitt, wo man sich fragen kann, was auf irgend
einem Gebiete in diesem kleinsten aber wohl markierten
Zeitraum der Geschichte geleistet worden ist. Wer sich
jetzt nun als Dramaturg diese Frage vorlegt, der kann mit
bestem Gewissen nur sagen, daß sich betreffs der drama-
tischen und theatralischen Kunst Deutschlands in diesem
Jahreskreislauf beinahe nichts, nichts wesentlich Neues,
nichts geistig Bedeutsames ereignet hat. Die überhaupt
auffälligen Erscheinungen führten beinahe ausnahmslos
nur längst bekannte, in ihrer Richtung unveränderlich
hingenommene Kräfte weiter — weiter in einer Rich-
tung, von der wir schwerlich viel Heil hoffen dürfen.
Denn jene Einheit von sinnlicher Anschauung und
geistiger Übermacht, die jeder Sprachkünstler der Natur
seines Werkzeugs nach braucht, und die der Drama-
tiker zur antithetischen Ordnung der Weltkräfte noch
unentbehrlicher braucht — diese Einheit findet sich bei
keinem von denen, die heute im deutschen Drama voran-
stehen. Der Volksschillerpreis — und solche Auszeich-
nungen sind doch mindestens von symptomatischer Be-
deutung — fiel diesmal auf Herbert Eulenberg
für sein Drama „Belinde".* Man kann sich freuen,
daß die Auszeichnung dieses Mal auf einen Dichter
gefallen ist, auf einen Menschen, dessen Werk ohne
literarische Schrauben und Pumpen aus der Tiefe seines
Blutes unmittelbar heraufsprudelt. Aber man wird
nicht behaupten, daß das ungebärdige Talent dieses
späten Romantikers in „Belinde" der großen Möglich-
keit und Notwendigkeit eines echten Dramas, der Idee
bedeutsamer im Gleichgewicht gehaltener Schicksals-
mächte, irgendwie näher gekommen sei. Im Gegenteil
ist die theatralische Rundheit der ersten Akte (vermöge
deren wohl Eulenberg den Herren Preisrichtern zum
erstenmal eingegangen ist) mit einer Führung der Fabel
erkauft, die an originellem Reiz unter Eulenbergs sonsti-
gem Niveau ist. Nur durch ein paar lyrische Details
unterscheidet sich die Geschichte vom zurückkehrenden
Gatten, der sein Weib verlobt findet, und den Neben-
buhler mit amerikanischem Duell aus der Welt beför-
* Buch bei Rowohlt, Leipzig. Gespielt in Leipzig, Dresden
u. a. O.


rs-
 
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