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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 23.1913

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Coellen, Ludwig: Die politische Haltung und Wirksamkeit der deutschen Philosophen vor 100 Jahren
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Smekal, J.: Die Wunder zu Canterbury
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https://doi.org/10.11588/diglit.26493#0284

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Wirksamkeit der deutschen Philosophen vor 100 Jahren.

Die politische Haltung und
das Vaterland erscheint. Patriotismus und protestanti-
sches Christentum verbinden sich in dem Philosophen
zu einer Jdeeneinheit. Der Protestantismus ist ihm
diejenige Form der Religion, welche auf die Selbst-
bestimmung des Einzelnen gegründet ist, und welche
im Staate ihre gesellschaftliche Wirklichkeit haben soll.
Deutschland vermag, wie es ist, dieser Forderung nicht
zu genügen; Preußen ist vielmehr der Staat, in
dem die politische Form mit der religiösen in Einheit
ist, und Preußen wählt er darum als sein eigentliches
Vaterland, dem er alle seine Kräfte widmet. Deutschland,
so predigt er im Jahre 1807, muß erst noch weiter zer-
trümmert, seine politische Form geändert, Preußen
sein Mittelpunkt werden.
Unermüdlich wirkt Schleiermacher erst in Stolpe,
dann in Halle und schließlich in Berlin von der Kanzel
herab für die Befreiung des Landes. Mit klarem Blick
sieht er nach Jena die Notwendigkeit des kommenden
Volkskrieges: „es steht bevor früher oder später ein
allgemeiner Kampf, dessen Gegenstand unsere Gesinnung,
unsere Religion, unsere Geistesbildung nicht weniger
sein werden als unsere äußere Freiheit und äußeren
Güter", ein Kampf, „den die Völker mit ihren Königen
gemeinsam kämpfen werden", „an den sich jeder, jeder,
wie es die gemeinsame Sache erfordert, anschließen
muß". Aus allen Ständen drängten sich die Zuhörer
zu seinen Predigten, Unzähligen verlieh er Trost und
Mut und die Kraft zu begeisterter Selbstverleugnung.
Es war nicht zum wenigsten sein Verdienst, daß schon in
den Jahren 1807 und 1808 in der Bevölkerung Berlins
ein völliger geistiger Umschwung eintrat. Daneben
war er im steten Bunde mit Stein einer der regsten
Teilnehmer an der politischen Arbeit, welche die
Patrioten damals unternahmen, um das Befreiungs-
werk in die Wege zu leiten und die Nation darauf
vorzubereiten.
Dem Verhalten Fichtes und Schleiermachers gegen-
über stellt dasjenige Schopenhauers das gerade
Gegenteil dar. Seinen äußeren Verhältnissen gemäß
fühlte sich dieser Philosoph eigentlich nirgends zu Hause,
und seiner ganzen philosophischen Persönlichkeit nach
konnte die Vaterlandsliebe in seinem Wesen keine
Stelle finden. Die sittliche Wertung des Staates seitens
der Idealisten verachtete er, und selber hatte er für
den Staat nur seine sogenannte „Maulkorbtheorie"
übrig: er schätzte ihn nur als eine Einengung des freien
Willens, aus der Not geboren und Not erzeugend.
Wie er die ganze Welt als ein Jammertal betrachtete,
das nichts sei als die Erscheinung des bösen Willens,
so konnten ihm auch die unheilvollen Zustände Deutsch-
lands nur eine Bestätigung seiner Anschauung bedeuten,
die er kühlen Sinnes hinnahm; und so lautete denn auch
sein Urteil über die Zeitereignisse. Eine derartige Stellung
würde an und für sich in der besonderen Wesensbestim-
mung eines produktiven Menschen ihre Rechtfertigung
finden und jenseits der Beurteilung aus dem Standpunkt
des Patrioten stehen; und auch das noch wäre begreiflich,
daß Schopenhauer sich nur zu seinem Werke, nicht aber
zum Kriegsdienst verpflichtet fühlte. Doch er ging in der
Vertretung seiner Anschauungen so weit, daß er in seinem
Promotionsschreiben es ohne den da gebotenen Takt

der Zurückhaltung aussprach, er sei „nicht dazu geboren,
der Menschheit mit der Faust zu dienen, sondern mit dem
Kopfe, und sein Vaterland sei größer als Deutschland";
daß er ferner, wie ihm seine Mutter in einem Briefe vor-
wirft, über diejenigen spottete, die mit dem Schwert in der
Hand gegen den Feind zogen. Freilich steht damit
in Widerspruch, daß er andere tätig in ihrer Absicht,
in den Krieg zu ziehen, unterstützte; und wenn man
noch bedenkt, daß auch die verbohrte und verbissene
Einseitigkeit Schopenhauers letzten Endes eine Be-
dingung für das Zustandekommen seines Werkes war,
so möchte man geneigt sein, selbst hier an die Stelle
des Urteils das bloße Begreifen zu setzen.
vr. Ludwig Coellen.

ie Wunder zu Canterbury.
Von I. Smekal.
Einen besonderen Tod war er gestorben, wie
er ein besonderes Leben gelebt, Thomas Decket,
der Kanzler und Kavalier, der Gottesgelahrte, der
Erzbischof, der Heilige. Denn die Legenden hatten
sich von Stund seines blutigen Endes am Altäre der
Kathedrale herumgesprochen und waren gar eilig
viele Meilen weit gerannt; und so man auch fünf Jahr-
zehnte später noch auf der hohen Schule zu Paris einen
gar ernsthaften Disput hielt, ob jener wunderliche
Mensch zurzeit im Paradies oder in der Hölle sei, die-
jenigen, die in seinen letzten Tagen und Monaten um
ihn gewesen, konnten nur Seltsames und Heiliges be-
richten.
Die Namen der Ritter und Edelleute, die im treuen,
ungestümen Diensteifer für ihren königlichen Herrn sich
zu Mordgesellen verwandelt, sind aufbewahrt durch
die weiten wechselnden Zeitläufte und tönen unserem
Ohre wie das Zusammenspiel eines häßlichen Vier-
klanges: Reginald Fitz-Urfe, Wilhelm von Tracy, Hugo
von Moreville, Richard Brito. Denn immer ist es wie
das Reißen einer Saite, wenn ein Mensch nicht sein
natürliches Ende erleben darf. Von der armseligen
Kreatur jedoch, die das letzte Spiel geleitet, über welches
blutig der Vorhang fiel, sagt nur selten die Chronik
ein geschwätziges Wort; es ist vom Bruder Thomas
mit den weißen Mäusen.
Eben war er heimgekehrt in sein dunkles Asyl, das
ein rußender Kienspan dumpf erhellte. Noch hörte er
in seiner Nähe den Hufschlag der entfliehenden Ritter,
denen er Verräterdienste geleistet und die ihn auf einem
Saumtiere mitnehmen wollten. Noch schlug an sein
Ohr das breite Lachen Hugo von Morevilles, da er ein
kleines Goldgeschenk, das sie ihm von der gemachten
reichen Beute zuschanzen wollten, zurückwies. Er war
nach dieser Herberg geflohen, als ob sich nach allen
anderen Seiten feurige Flammen auftäten, um ihn zu
verfolgen. In diesem Erdloch fühlte er sich für den Augen-
blick geborgen; er mußte die Vergangenheit der letzten
Stunden abtun. Mitten im Gemach stand er und sah
seinen Schatten an; der wollte nicht zur Ruhe, zuckte
und geisterte und brauchte irgend eine Zerstreuung.


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