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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 23.1913

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Soellen, Ludwig: Die alte und die neue Naturphilosophie
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Hesse, Hermann: Das Landgut
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https://doi.org/10.11588/diglit.26493#0491

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Das Landgut.

niemals sein können, weil sie formale Begriffe, Formen
des Erkennens, sind.
Es ist schwer, Ostwald gegenüber den Ton kühler
Kritik zu bewahren. Wer seine Behandlung der Kultur-
probleme aus dem Standpunkt der Energetik kennen
lernt, hat an der Einsicht genug, zu welch erschreckender
Banalität hier das energetische Räsonieren führt. „Ver-
schwende keine Energie, sondern verwerte sie": der
kategorische Imperativ in energetischer Verflachung,
der die Idee der sittlichen Freiheit den Hühnern und
Sportsleuten anpaßt. Oder: „wir werden die Gesell-
schaft" (nämlich die menschliche) „nur soweit und in-
sofern als wertvoll anerkennen, als sie durch ihre Ordnung
das Güterverhältnis" (das ist das Verhältnis der Nutz-
energie zur aufgewandten Rohenergie) „verbessert";
mit anderen Worten: Energie ist Selbstzweck. Das
sind als Beispiele ein paar Blüten Ostwaldschen Kultur-
begreifens. vr. Ludwig Coellen.

as Landgut.
Von Hermann Hesse.
Die Mitternacht war schon nahe. In dem großen
sommerlichen Gesellschaftszimmer des alten Landhauses
glänzte die Hängelampe auf die dunklen Bilder und
ihre blaß gewordenen Goldrahmen, auf das offene Tafel-
klavier, auf welchem ein Strauß Narzissen stand, und
auf den riesigen runden Eichenlisch. An diesem saß
der Hausherr und die Dame, ihr Sohn und ich, der aus
der Stadt zu Gast gekommen war.
Auf dem Tische lag neben einem Strauß von Enzian
und Schlüsselblumen aufgeschlagen ein altes Büchlein
von Eichendorff und eines von Hoffmann-Callot, mit
kleinen rotbraunen Kupfern, und über die Bücher weg-
gelegt lag die Geige des jungen Mannes. Durch die
geöffneten Flügeltüren des altmodisch ausgebauchten
Balkons kam die kühle Luft herein und der Geruch der
blühenden Obstgärten und das schwache weiße Licht der
Sterne. Jenseits der Wiesen und schwarzen Felder
schienen die Sterne überaus zahlreich, klein und rötlich
auf der Erde fortzuglänzen — dort lag mit tausend
Lichtern die bleich überdunstete Stadt.
Vom Kiesplatz her klang der schwache künstliche Quell
des kleinen Fischweihers.
Die kleine, vertraute Gesellschaft gab sich müden
Abendträumereien hin und redete wenig; oft war lange
kein andrer Laut im Zimmer als unser Atem und der
Atem der Nacht, als der Windzug, der die losen Balkon-
türen leise bewegte, oder ein halbes Geräusch aus der
nahen Stube, in welcher bei offenen Fenstern die Kinder
schliefen. In diesen stummen Minuten drang der süße
Glanz der aufsteigenden Venus stärker in das Zimmer,
vom Klavier her wurden für Träumerohren die eleganten
Takte Mozarts unendlich leise hörbar, und in der braunen
Geige rührten sich mit summendem Gedränge die ge-
fangenen Töne. In den entfernten Ecken des zu großen
Zimmers saß dunkel und lauschend die Finsternis.
„Jetzt erzählet!" sagte die Hausfrau, und zugleich
löschte sie die Lampe aus. Die Finsternis stürzte hinter
is-

dem verglasenden Flämmlein her gierig aus allen Ecken
hervor, aber der Päße Glanz der Venus drang bis zum
Rande des runden Tisches und lag zwischen ihm und
dem Balkon wie eine weiße Geisterstraße. Gemeinsam
mit dem Sohne begann ich eine Geschichte zu erzählen,
so daß einer den andern in kurzen Pausen ablöste, wie
wir es oft getan hatten. Die dunkle Nacht und der
erwachende Spätwind und die viel mehr als hundert-
jährigen Bäume der englischen Allee erzählten in den
Pausen mit, und es geschah daher, daß in unserer Ge-
schichte viel von Sternen und nächtlichen Schatten auf
mondhellen Parkwegen die Rede war, auch von Seufzern,
die in bedeutender Stunde aus Gewächs und Gerät
steigen, von Doppelgängern, Angstgebilden und auf-
steigenden Schatten Verstorbener.
Mit dem letzten Schlage der Mitternacht war die
Geschichte zu Tod und Ende gebracht und verklang
fremden Tons in der Dunkelheit. Eine Kerze flammte
auf, und eine zweite; nebenan ward mir ein kleines
Schlafgemach eröffnet, wir gaben einander die Hände
und gingen auseinander.
Noch einer kurzen halben Stunde Schlafs erweckte
mich eine sanfte Klaviermusik. Leise und sehr behutsam
stieg ich aus dem hohen Bett und schob die angelehnte
Türe des Gesellschaftszimmers ein wenig weiter zurück.
Ein schwaches Flimmerlicht drang ein, und die Musik
erklang deutlicher. Ich erkannte ein Scherzo von Mozart,
von Frauenfingern gespielt. Noch ein vorsichtiger, vor-
sichtiger Druck an die Tür . . .
Am Klavier saß ein hübsches Mädchen im Kostüm
der Empirezeit, weiß mit lila Schleifen und sehr hoch
gegürtet. Sie spielte die delikate Musik so, wie ich glaube
daß sie vor hundert Jahren gespielt wurde, nämlich sehr
zierlich, einfach und akkurat, nur die kleinen sentimen-
talen Figuren leicht übertreibend, und sie lächelte dazu.
Nach einer kurzen Weile hielt sie inne. Es entstand
Geräusch auf dem Balkon. Ein junger Herr in dunkel-
blauem Frack stieg über die schöne schmiedeiserne Brüstung.
Seine weißen Wadenstrümpfe stachen hell und unerträg-
lich eitel durch die Nacht hervor. Kaum hatte er beide
schlanke Beine über den leicht erzitternden Eisenbord
gebracht, da war er schon im Zimmer und lag vor dem
Klavier der schönen Musikantin zu Füßen. Indes er
Liebeswahnsinn stammelte und von ihr mit schnöde
lächelnden Mienen ungläubig angehört wurde, reizte
mich ihr hochmütig hübsches Gesicht und der noble
Bogen ihrer hochgezogenen Brauen. Sie spielte jeweils
einen fröhlichen Takt weiter und hörte sodann wieder
heiler, behaglich und grausam dem Knieenden zu, seine
Beschwörungen bald mit Schweigen, bald mit Lächeln,
bald mit einem fidelen Triller beantwortend. Sie schlug
erstaunlich tadellose Triller.
Da der Galant heißer und am Ende immer drän-
gender und unabweislicher wurde, ärgerte ich mich doch.
Ich brach im Hemde aus meiner Kammer hervor, ergriff
den Verliebten mit beiden zornigen Händen, trug ihn
— er war nicht schwer — zum Balkon, an welchem
noch seine eingehakte Leiter hing, und warf den schmäch-
tigen Pudermann köpflings hinunter. Ein verhältnis-
mäßig stattlicher Fall tönte drunten auf dem mond-
weißen Fliesenboden. Umkehrend verneigte ich mich
 
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